Die Achse der Natur — Hans Blüher, 1948

Hans Blüher wurde vor allem als umstrit­ten­er Deuter der Wan­der­vo­gel­be­we­gung und als Autor des zweibändi­gen Werkes Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft (1917/19) bekan­nt. In den zwanziger Jahren wid­mete er sich ver­stärkt poli­tis­chen und the­ol­o­gis­chen The­men. Nach anfänglichen Sym­pa­thien wandte er sich nach 1933 rasch vom Nation­al­sozial­is­mus ab und zog sich aus der Öffentlichkeit zurück. In den Jahren seines pub­lizis­tis­chen Schweigens ent­stand Die Achse der Natur, das Blüher als die Summe seines Lebenswerkes betra­chtete.

Als das Buch 1949 erschien, lag seine let­zte große Pub­lika­tion 15 Jahre zurück; 1952 fol­gte der Ergänzungs­band Par­erga zur Achse der Natur.

In diesen bei­den zusam­menge­höri­gen Schriften wird der eigentliche Kern von Blühers Denken deut­lich, der auch den jugend­be­wegten, sex­u­althe­o­retis­chen und anti­semi­tis­chen Werken zugrunde liegt, die vor­rangig mit ihm assozi­iert wer­den:

Da wäre zum einen die Vertei­di­gung der nicht dekon­stru­ier­baren Essenz der Dinge als Geschaf­fenes und des Men­schen als Geschöpf, zum anderen das Ver­hält­nis dieses Geschöpfes zu den ethis­chen, religiösen und ästhetis­chen Gütern, »um deretwillen es sich allein lohnt, Men­sch zu sein«.

Diese Güter entstam­men aber nicht dem »Men­schengeist«, son­dern dem »Welth­in­ter­grund«, den Blüher als »Natur« beze­ich­net und fol­gen­der­maßen definiert: »Natur ist ein tran­scen­den­tales Kon­tin­u­um. Sie hat eine Achse, deren ein­er Pol im tran­scen­den­tal­en Sub­jekt ver­ankert liegt, der andere im tran­scen­den­tal­en Objekt.

Ihr Inhalt heißt das arche­typ­is­che Poten­tial.« Das bedeutet nicht weniger als den Wiedergewinn ein­er mit der Aufk­lärung und Mod­erne ver­lorenge­gan­genen Per­spek­tive, die den Men­schen nicht als hybri­den Schöpfer sein­er selb­st, son­dern in einem beson­deren Ver­hält­nis zu Gott und zur »Natur« ste­hend betra­chtet. Damit stellt sich Blüher ein­er Kern­frage des »europäis­chen Nihilis­mus« (Niet­zsche): Sind die Dinge, die das Sein des Men­schen bish­er tran­szendiert haben »wahr« und objek­tiv gültig, oder sind sie nur von ihm »aus­gedacht«, nichts weit­er als sein eigenes sub­jek­tives Werk, schöne Lügen und Chimären, die ihn um seine fatale Lage im Weltall hin­wegtrösten sollen?

Die Achse der Natur ver­sucht, das Gegen­teil zu beweisen. Die Kul­turleis­tun­gen des Men­schen sind ohne Gott nicht denkbar, ihre Rück­führung auf den »Men­schengeist« ist gar Gottes­lästerung. Die Erken­nt­nis dieser Dinge ist laut Blüher vielmehr ein objek­tiv­er Vor­gang mit Offen­barungscharak­ter, der indessen allein in der »genialen Zone der Men­schheit« stat­tfind­et. Der Über­gang vom »Sta­tus nascen­di« der geisti­gen Empfäng­nis zum »actus demon­stran­di« der Über­set­zung in eine Form (ein Werk oder eine Tat) unter­liegt jedoch, wie alle Dinge der Welt, der Erb­sünde. Der Druck, den das »arche­typ­is­che Poten­tial« der Natur auf das Indi­vidu­um ausübt, über­fordert oft seine Kapaz­itäten; so bleibt auch das Werk des Genies nicht frei von Schlack­en und Irrtümern. Wesentlich an dieser Meta­physik des Genies (die Blüher erst­ma­lig in dem 1924 anonym erschiene­nen Band Die deutsche Renais­sance for­mulierte) ist die Beto­nung, daß auch dieses nur ein Gefäß für die Offen­barun­gen des Objek­ts sei. Blüher erken­nt im Bau der Welt einen Sinn und eine Ord­nung, die mit Ver­standeskräften allein nicht zu fassen sind; sie müssen wahrgenom­men wer­den mit den geisti­gen Orga­nen der Erken­nt­nis, zu denen er auch den »Eros« zählt.

Die Achse der Natur bre­it­et ihr The­ma in barock­er Fülle und mit eklek­tizis­tis­ch­er Freizügigkeit aus, in der far­bigen, anschaulichen, direkt zugreifend­en Sprache eines Pla­tonikers und Augen­men­schen. Den beson­deren Schliff gibt die mitunter verblüf­fende und auch anstößige Eigen­willigkeit, die für Blühers Werk so charak­ter­is­tisch ist. Der Reiz dieser philosophis­chen Rück-Anbindung und Bodengewin­nung ist, daß der Autor sich als Denker ver­ste­ht, der bere­its, nach Ste­fan George, »durch die vol­len­dete Zer­set­zung hin­durch« gegan­gen ist, der in den Trüm­mern des Abend­lan­des die Dinge zu benen­nen ver­sucht, die der großen nihilis­tis­chen Götzendäm­merung standge­hal­ten haben. Die Sekundär­lit­er­atur zu Blüher ste­ht seinem Hauptwerk, das schon zu seinen Lebzeit­en kaum Beach­tung fand, indessen rat­los gegenüber. Eine pro­funde inhaltliche Auseinan­der­set­zung blieb voll­ständig aus, es ist, wie der Autor prophezeit hat, »liegen geblieben«, während seine wesentlichen Fragestel­lun­gen so vir­u­lent sind wie eh und je. Pos­i­tiv rezip­iert wurde es kaum von Philosophen, son­dern vor allem von Außen­seit­ern, aber auch von Ernst Jünger, in dessen Tage­büch­ern Die Achse der Natur gele­gentlich Erwäh­nung find­et.

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Zitat:

Die Philoso­phie — wenn sie mal wieder eine Sprache haben will — hat es nicht in der Hand, ihre Fachaus­drücke beliebig zu wählen, son­dern sie ist darauf angewiesen, was die Natur ihr sagt; sie darf sich nichts aus den Fin­gern saugen.

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Aus­gabe:

  • Nach­druck, Norder­st­edt: Books on Demand 2001

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Lit­er­atur:

  • Mar­tin Lichtmesz: Autoren­por­trait Hans Blüher, in: Sezes­sion (2006), Heft 15