Doppelleben — Gottfried Benn, 1950

1949 ist Benns Jahr des selb­st­betitel­ten »Come-Backs«; erst­mals seit 1938 darf er wieder Gedichte, Essays und Prosa in Deutsch­land veröf­fentlichen. Ein Jahr später läßt er diese »Selb­st­darstel­lung« fol­gen, die das Inter­esse an sein­er umstrit­te­nen Per­son befeuert. Allerd­ings ist Dop­pelleben alles andere als eine klas­sis­che Auto­bi­ogra­phie – Benn: »Herkun­ft, Lebenslauf – Unsinn!«

Denn trotz des Ein­flecht­ens auto­bi­ographis­ch­er Eck­dat­en und Erleb­nisse stellt Dop­pelleben haupt­säch­lich eine Recht­fer­ti­gungss­chrift dar, die zwis­chen Prosa, Essay, eigen­er Poet­ik und vor allem ständi­ger Selb­st­be­fra­gung und Selb­stz­i­tierung ihre Haupt­these entwick­elt – Benns Zwei-Reiche-The­o­rie: hier der Geist und die Kun­st, dort das niedere Leben und die Geschichte, »Mönche oder Mörder«, wie er an ander­er Stelle schreibt. Zen­traler Teil ist das Kapi­tel »Block II, Zim­mer 66«, das Benn 1943/44 als Mil­itärarzt in Lands­berg an der Warthe vor dem Hin­ter­grund des nahen­den Endes des Drit­ten Reich­es schrieb.

Dem Buch von 1950 stellte er seinen bere­its 1934 veröf­fentlicht­en »Lebensweg eines Intellek­tu­al­is­ten« voran, ohne ihn, außer in weni­gen Details, zu über­ar­beit­en, und erweckt so den Ein­druck der Kon­ti­nu­ität seines Denkens, das außer­halb der Wirren der Zeit ste­ht.

Entsprechend kam die Kri­tik an sein­er »Mon­tageau­to­bi­ogra­phie« (Hans-Edwin Friedrich), oder »Prosasuite« (Wolf­gang Emmerich), vor allem aus linken und Emi­grantenkreisen (Peter de Mendelssohn) und von der Recht­en (Carl Schmitt). Man warf ihm entwed­er Ver­harm­lo­sung der eige­nen Rolle im Jahr 1933 oder Einknick­en vor den Siegern vor. Doch Benn gelang es mit dem Dop­pelleben, sich als einen Pro­tag­o­nis­ten der »Inneren Emi­gra­tion« zu posi­tion­ieren und gle­ichzeit­ig eine Blau­pause für eine kon­ser­v­a­tive Exis­tenz im Wahnsinn der Ide­olo­gien des 20. Jahrhun­derts zu erstellen, die bei großen Teilen der jun­gen Bun­desre­pub­lik Anerken­nung fand.

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Zitat:

Das, was lebt, ist etwas anderes als das, was denkt, dies ist eine fun­da­men­tale Tat­sache unser­er Exis­tenz und wir müssen uns mit ihr abfind­en. Möglich, daß es ein­mal anders war, möglich, daß in ein­er uner­ahn­baren Zukun­ft eine siderische Vere­ini­gung her­an­schim­mert, heute lebt die Rasse in dieser Form.

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Aus­gabe:

  • Sämtliche Werke. Stuttgarter Aus­gabe, Band V (Prosa 3), Stuttgart: Klett-Cot­ta 1991, S. 83–176

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Lit­er­atur:

  • Hel­mut Lethen: Der Sound der Väter. Got­tfried Benn und seine Zeit, Berlin 2006