Dornach – Goetheanum

Der kleine Ort Dor­nach tritt zweimal aus dem Dunkel der Geschichte her­aus. Am 22. Juli 1499 fand hier die let­zte Schlacht des Schwabenkrieges, der zwis­chen dem Schwäbis­chen Bund und den Eidgenossen aus­ge­focht­en wurde, statt. Der Sieg der Eidgenossen führte zum Frieden von Basel und besiegelte die endgültige Ablö­sung der Schweiz vom Heili­gen Römis­chen Reich Deutsch­er Nation. Etwa 400 Jahre später führte ein Zufall dazu, daß die Anthro­posophis­che Gesellschaft in Dor­nach, auf dem Schlachthügel des Schwabenkrieges, ihr Zen­trum errichtete.

Seit 1907 gab es bei den Anthro­posophen Bestre­bun­gen, einen Ort zu find­en, an dem sie dauer­haft ein Gebäude erricht­en kon­nten, das ihren Anforderun­gen genügte. Da sich im Münch­n­er Raum die meis­ten Aktiv­itäten abspiel­ten, ver­suchte man dort Land zu erwer­ben und zu bauen, was jedoch an den baube­hördlichen Aufla­gen scheit­erte. 1912 hat­te Rudolf Stein­er in Basel einen wohlhaben­den Anthro­posophen ken­nen­gel­ernt, der das Grund­stück in Dor­nach besaß und zur Ver­fü­gung stellen wollte. Nach­dem das Gelände, ins­beson­dere die her­aus­ge­hobene Posi­tion des
Hügels, für gut befun­den wor­den war, fand die Grund­stein­le­gung am 20. Sep­tem­ber 1913 statt.

Zu diesem Zeit­punkt hat­te die Anthro­poso­phie bere­its eine lange Geschichte hin­ter sich. Sie war zunächst eine von unzäh­li­gen eso­ter­ischen Glaubenslehren, die in Deutsch­land im let­zten Drit­tel
des 19. Jahrhun­derts ent­standen. Ursäch­lich dafür war ein religiös­es Bedürf­nis viel­er Men­schen, die angesichts der natur­wis­senschaftlichen Fortschritte die Sin­n­frage neu stell­ten und im Kirchenglauben keine Antwort mehr fan­den. Die Anthro­poso­phie hat ihre organ­isatorischen Wurzeln in der Theosophis­chen Gesellschaft von Hele­na Blavatsky, die 1875 in New York gegrün­det wurde. Da sich die Theoso­phie bis zur Jahrhun­der­twende immer weit­er dem Bud­dhis­mus und Hin­duis­mus zuwandte, gab es ver­schiedene Abspal­tun­gen.

Die bis heute erfol­gre­ich­ste davon wurde von Rudolf Stein­er (1861–1925) inspiri­ert und bald auch geführt. Stein­er wid­mete sich nach einem umfan­gre­ichen Studi­um der Goethe-Forschung,  ins­beson­dere der Edi­tion von dessen natur­wis­senschaftlichen Schriften. Goethe wurde auf diesem Weg zu seinem weltan­schaulichen Vor­denker und Aus­gangspunkt der Ausar­beitung eines aus­d­if­feren­zierten Lehrge­bäudes der Anthro­poso­phie. Dabei ließ Stein­er kaum eine Sphäre der Kul­tur aus, war als Pro­pa­gan­dist sein­er Ideen unge­heuer pro­duk­tiv (es gibt eine auf 350 Bände
angelegte Gesam­taus­gabe von Stein­ers Werken) und kon­nte eine treue und große Jünger­schaft um sich ver­sam­meln. Die bekan­ntesten anthro­posophis­chen Pro­jek­te sind die mit­tler­weile weltweit zu find­en­den Wal­dorf­schulen oder der auf seine Lehre zurück­ge­hende bio­dy­namis­che Land­bau (»Deme­ter«). Stein­er ver­stand Anthro­poso­phie als einen »Erken­nt­nisweg, der das Geistige im Men­schen­we­sen zum Geisti­gen im Wel­te­nall führen möchte«. Im Grunde ging es um die  Anleitung des Men­schen, ein­er Drei­heit von Kör­p­er, Seele und Geist, um ihn zu einem Erken­nt­nis­prozeß zu führen, der es ihm ermöglichen sollte, den objek­tiv­en Gehalt der Welt wahrzunehmen. Dazu nahm Stein­er auf so ziem­lich jede geistige Her­vor­bringung der Welt­geschichte Bezug.

Obwohl Stein­er dies in unzäh­li­gen Vorträ­gen, die meis­tens auch als Broschüren ver­trieben wur­den (und noch heute wer­den), öffentlich propagierte (zu seinen Vorträ­gen kamen oft Tausende von Zuhör­ern), blieb doch der Ein­druck beste­hen, daß es sich bei der Anthro­poso­phie um eine eso­ter­ische Geheim­lehre han­delte, an die man glauben mußte, wenn man den Erken­nt­nisweg gehen wollte. Dementsprechend groß waren die Wider­stände gegen Stein­er und seine Anhänger. Nicht zulet­zt daraus erk­lären sich auch die Prob­leme bei der Stan­dort­suche für das Zen­trum sein­er Bewe­gung und daß die Wahl zunächst eher notge­drun­gen auf Dor­nach fiel.

Dem ersten Goetheanum war keine lange Exis­tenz beschieden. Der aus Holz gefer­tigte Bau mit zwei ineinan­der­greifend­en Dop­pel­hal­bkugeln als Dach wurde am 26. Sep­tem­ber 1920, sieben Jahre nach der Grund­stein­le­gung, eröffnet und bran­nte in der Nacht zum 1. Jan­u­ar 1923 bis auf den Sock­el nieder. Bere­its wenig später veröf­fentlichte Stein­er Pläne für einen Neubau und schuf ein Mod­ell, an dem sich die Architek­ten ori­en­tierten. Als Bau­ma­te­r­i­al wählte man dies­mal Beton. Am 30. März 1925, kurz nach Beginn der Bauar­beit­en, ver­starb Stein­er. Am 29. Sep­tem­ber 1928 kon­nte der Neubau eröffnet wer­den, der von Stein­ers Idee eines Gesamtkunst­werks bes­timmt ist und gle­ichzeit­ig als eine Pio­nier­leis­tung des Beton­baus gilt. Wolf­gang Pehnt, ein  Architek­turhis­torik­er, beze­ich­net das Bauw­erk als »eine der einzi­gar­tig­sten architek­tur­plas­tis­chen Erfind­un­gen, die das 20. Jahrhun­dert aufzuweisen hat«.

Das zweite Goetheanum erin­nert dadurch, daß der Bau kom­plett aus Sicht­be­ton beste­ht, an einen mon­u­men­tal­en Hochbunker, wie er im Zweit­en Weltkrieg u. a. in Berlin als Flak­bunker gebaut wurde. Andere Assozi­a­tio­nen sprechen auch von ein­er Garage oder ein­er Schild­kröte, wobei das Dach den Panz­er bildet. Ins­ge­samt macht das Gebäude einen mon­u­men­tal­en, auch tem­pelar­ti­gen Ein­druck, was durch die eige­nar­tige For­mge­bung noch ver­stärkt wird. Durch die Ver­mei­dung des recht­en Winkels ent­stand eine organ­is­che Form, die in einem merk­würdi­gen Kon­trast zum Mate­r­i­al und der damit ver­bun­de­nen Moder­nität ste­ht. Die Lage auf dem Hügel trägt ein übriges zu dem über­wälti­gen­den Ein­druck bei. Im Innern set­zt sich die spezielle For­mge­bung fort, die schließlich im Zen­trum mün­det – einem tausend Sitz­plätze großen Saal mit Bühne und Orgel.

In der Umge­bung des Goetheanums wur­den zahlre­iche weit­ere Häuser (ins­ge­samt mehr als 180) errichtet, die teil­weise auf Stein­er selb­st zurück­ge­hen und dem ganzen Anwe­sen den Charak­ter eines Ensem­bles geben. Am bekan­ntesten dürfte das bere­its 1915 errichtete Heizhaus sein. Genutzt wird das Goetheanum als Kultur‑, Tagungs- und The­ater­bau, (u. a. ist dort die Freie Hochschule für Geis­teswis­senschaft ansäs­sig), Eigen­tümerin ist die All­ge­meine Anthro­posophis­che Gesellschaft. Jährlich kom­men mehr als 150 000 Besuch­er nach Dor­nach, die in einen Ort strö­men, der lediglich 6 000 Ein­wohn­er hat.

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Lit­er­atur:

  • Wolf­gang Pehnt: Rudolf Stein­er – Goetheanum, Dor­nach, Berlin 1991
  • Son­ja Ohlen­schläger: Rudolf Stein­er (1861–1925). Das architek­tonis­che Werk, Peters­berg 1999
  • Rudolf Stein­er: Wege zu einem neuen Baustil. Fünf Vorträge, gehal­ten während der Arbeit am Goetheanum 1914, Dor­nach 1926
  • Hel­mut Zan­der: Rudolf Stein­er. Die Biogra­phie, München 2011