Cioran, E. M., Schriftsteller, 1911–1995

Der rumänisch-franzö­sis­che Schrift­steller und Denker Emil Cio­ran, geboren am 8. April 1911 in Rasi­nari, hat ein in viel­er Hin­sicht unver­gle­ich­lich­es Werk vorgelegt, das in zwei Teile zer­fällt:

1. die rumänisch geschriebe­nen Texte der Frühzeit bis in die vierziger Jahre

2. die franzö­sisch geschriebe­nen Texte seit sein­er Über­sied­lung nach Paris.

Cio­ran, der früh Deutsch lernte, war mit den zeit­genös­sis­chen philosophis­chen und the­ol­o­gis­chen Prob­lem­stel­lun­gen bestens ver­traut, schloß sich aber kein­er der beste­hen­den Strö­mungen an, son­dern entwick­elte eine radikale, teils idiosynkratis­che Posi­tion, die sich im let­zten gegen jede Sys­tem­a­tisierung des men­schlichen Daseins richtete. Tat­säch­lich muß Cio­ran als radikaler Antiphilosoph ver­standen wer­den, der sich gegen jedes Sys­tem richtet, und zwar auf der Grund­lage ein­er exis­ten­tiellen Melan­cholie und Langeweile (von ihm auch mit den Begrif­f­en ennui und cafard umschrieben), die er gegenüber der Welt an sich mit großer Inten­sität emp­fand.

Weil Cio­ran kein sys­tem­a­tis­ch­er Denker war, beste­ht ein großer Teil seines Werkes aus apho­ris­tis­chen und essay­is­tis­chen Tex­ten. Die Form entspricht so der Unmöglichkeit des the­o­retis­chen Zugriffs auf die Welt, sie spiegelt aber auch die Wiederkehr von Motiv­en, die als kon­sti­tu­tiv für Cio­rans Denken seit seinen schrift­stel­lerischen Anfän­gen gel­ten kön­nen. Diese Texte befassen sich mit einem großen Spek­trum von The­men im Kon­text von Gott, Teufel, Men­sch und Welt, beziehen sich aber auch immer wieder auf eigene Erleb­nisse, Gedanken und nicht zulet­zt Lek­türen, war Cio­ran doch ein uner­sät­tlich­er Leser. In der Nach­folge der franzö­sis­chen Moral­is­ten, aber auch englis­ch­er Satirik­er wie Jonathan Swift mit ihrer scho­nungslosen Durch­leuch­tung der men­schlichen Natur war auch Cio­ran ein anthro­pol­o­gis­ch­er Pes­simist, der sich selb­st von dieser Diag­nose in kein­er Weise aus­nahm: »Der Men­sch ist ein Abgrund. Vom Wesen her. Eher schlecht
als gut.«

Cio­ran glaubte nicht an den oder über­haupt einen Sinn der Geschichte und lehnte damit jede Geschicht­sphiloso­phie im engeren Sinne ab: Geschichte habe keinen Sinn, son­dern nur einen Ver­lauf. Gle­ich­wohl fand das Prob­lem der Dekadenz Cio­rans beson­deres Inter­esse, fragte er sich doch, warum es zum Nieder­gang von Kul­turen kommt. Für das Europa des späten 20. Jahrhun­derts erkan­nte Cio­ran eine Bedro­hung von dessen Kul­tur, die von innen käme, weil die Europäer sein­er Auf­fas­sung nach inner­lich zer­rüt­tet seien. Dem entsprach Cio­rans Alp­traum von ein­er Moschee in jedem Paris­er Quarti­er, wie er auch der Mei­n­ung war, Paris sei (in der zweit­en Hälfte des 20. Jahrhun­derts) bere­its teil­weise von Bar­baren okkupiert.

Cio­rans bis heute umstrit­ten­stes Buch – sieht man von eini­gen, inzwis­chen auch in deutsch­er Über­set­zung zugänglichen Artikeln aus der Zeit seines Deutsch­landaufen­thaltes Anfang der dreißiger Jahre ab – ist die Verk­lärung Rumäniens (1936), deren Wieder­ab­druck Cio­ran nur unter Fort­las­sung einiger Kapi­tel über Ungarn und Juden erlaubte, von denen er sich später entsch­ieden
dis­tanzierte. Dieser Text ist ein­er der weni­gen, die bish­er nicht in deutsch­er Über­set­zung vorgelegt wur­den. Eine Rei­he von Posi­tio­nen dieses Buch­es, das sich mit der rumänis­chen Kul­tur befaßt, zeu­gen von Cio­rans in den dreißiger und vierziger Jahren kul­tiviert­er Sym­pa­thie für den radikalen rumänis­chen Nation­al­is­mus eines Cor­neliu Zelea Codreanu, des »Cap­i­tans«, dem Cio­ran nach sein­er Ermor­dung 1938 einen Gedächt­nis­ar­tikel wid­mete.

Auch wenn sich Cio­ran später deut­lich vom Fanatismus sein­er ersten, rumänis­chen, Schaf­fenspe­ri­ode, der unter dem Ein­fluß der Eis­er­nen Garde stand, abgren­zen sollte, sind doch die gemein­samen Züge des Früh- und Spätwerks nicht zu überse­hen. Ein wirk­lich­er Bruch läßt sich wed­er in Aus­drucks­form noch the­ma­tisch wirk­lich kon­sta­tieren. Cio­ran set­zte sich von Anfang an mit Schrift­stellern und Denkern jen­seits des Main­stream auseinan­der, wie exem­plar­isch seine Würdi­gung des reak­tionären Meis­ter­denkers Joseph de Maistre zeigt; unter seinen Zeitgenossen pflegte Cio­ran auch die Fre­und­schaft mit Autoren wie Samuel Beck­ett.

Aus dem Nach­laß wurde ein umfan­gre­ich­er Band mit eigentlich zur Ver­nich­tung vorge­se­henen Tage­buchaufze­ich­nun­gen und Noti­zen veröf­fentlicht, der einen sehr guten und umfassenden Ein­blick in das geistige Leben des inkom­men­su­rablen Skep­tik­ers und Ket­zers bietet.

Cio­ran starb am 20. Juni 1995 in Paris.

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Zitat:

Im Grunde sind alle Ideen falsch und absurd. Es bleiben nur die Men­schen, so wie sie sind … ich bin von jed­er Ide­olo­gie geheilt.

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Schriften:

  • Auf den Gipfeln der Verzwei­flung [1934], Frank­furt a. M. 1989
  • Lehre vom Zer­fall [1949], Ham­burg 1953
  • Dasein als Ver­suchung [1956], Stuttgart 1983
  • Die ver­fehlte Schöp­fung [1969], Wien 1973
  • Vom Nachteil, geboren zu sein [1973], Wien et al. 1973
  • Über Deutsch­land, Frank­furt a. M. 2011
  • Noti­zen 1957–1972. Voll­ständi­ge Aus­gabe, Wien 2011

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Lit­er­atur:

  • Patrice Bol­lon: Cio­ran, der Ket­zer, Frank­furt a. M. 2006
  • Doris Heres: Die Beziehun­gen der franzö­sis­chen Werke Émile Cio­rans zu seinen ersten rumänis­chen Schriften, Bochum 1988
  • Till Kinzel: Autoren­por­trait Emil Cio­ran, in: Sezes­sion (2007) Heft 16
  • Bernd Mattheus: Cio­ran. Porträt eines radikalen Skep­tik­ers, Berlin 2007
  • Armin Mohler: Cio­ran – der postrev­o­lu­tionäre Denker, in: Crit­icón (1986), Heft 95