Erinnerungen, Träume, Gedanken — C.G. Jung, 1962

Die auto­bi­ographis­chen Gespräche, die Carl Gus­tav Jung kurz vor seinem Tode mit sein­er Schü­lerin Aniela Jaf­fé führte, zeich­nen den Lebens- und Denkweg des Schweiz­er Psy­chi­aters und Begrün­ders der »Ana­lytis­chen Psy­cholo­gie« lebendig nach und führen ger­adewegs durch dessen labyrinthis­ches Lebenswerk.

Nach medi­zinis­chen und psy­chi­a­trischen Lehr­jahren wirk­te Jung ab 1907 im eng­sten Schülerkreis von Sig­mund Freud, bis es 1912 zum Bruch kam. Der Grün­der­vater der Psy­cho­analyse suchte seinen desig­nierten Nach­fol­ger auf das Dog­ma sein­er Sex­u­althe­o­rie zu verpflicht­en, die es als »Boll­w­erk gegen die schwarze Flut des Okkul­tismus« in Stel­lung zu brin­gen galt. Das traf Jung, der sich bere­its in sein­er Dis­ser­ta­tion von okkul­ten Phänome­nen fasziniert gezeigt hat­te, bis ins Mark, und mit Wand­lun­gen und Sym­bole der Libido (1912) besiegelte er seine Sezes­sion und entwick­elte eine eigene Konzep­tion von Tiefenpsy­cholo­gie.

Anders als Freud, der seinen Zugang zum men­schlichen See­len­leben vor allem über die Neu­rosen sein­er Zeit fand, war Jung als klin­is­ch­er Psy­chi­ater immer auch mit Psy­cho­sen kon­fron­tiert gewe­sen, die ihn auf tiefer­liegende Schicht­en der Psy­che ver­wiesen. Mit sein­er Lehre von den »Arche­typen« glaubte Jung, einge­bore­nen ener­getis­chen Urbildern auf die Spur gekom­men zu sein, die nicht weniger als das psy­chis­che Erbe der gesamten Men­schheit enthiel­ten, wie es in Träu­men, Mythen und Reli­gio­nen aller Epochen und Kul­turen zum Aus­druck gelangte. Dergestalt schuf Jung das Dog­ma des »kollek­tiv­en Unbe­wußten« und errichtete damit sein­er­seits ein okkultes Boll­w­erk gegen das allzu helle Licht der Aufk­lärung.

Entsprechend konzip­ierte Jung seine Ana­lytis­che Psy­cholo­gie weniger als spezielle Psy­chopatholo­gie denn als all­ge­meine Per­sön­lichkeit­spsy­cholo­gie. Nicht die Aufar­beitung von patho­genen Trau­ma­ta und sex­uellen Trieb­schick­salen stand im Zen­trum sein­er ther­a­peutis­chen Arbeit, son­dern die Erweiterung der Per­sön­lichkeit und die Erschließung ihrer kreativ­en Poten­tiale. Als »Psy­chosyn­thetik­er« betra­chtete Jung die men­schliche Seele als ein sich selb­st reg­ulieren­des Sys­tem, das ganz wie die homöo­sta­tis­chen Mech­a­nis­men des Kör­pers zu funk­tion­ieren schien, und in sein­er ganzheitlichen Sicht auf die psy­choph­ysis­che Ein­heit des Men­schen ent­deck­te er fol­gerichtig auch die psy­cho­so­ma­tis­che Phänom­e­nolo­gie.

Gegen die nervöse Selb­stentzweiung des mod­er­nen Men­schen suchte Jung einen heil­samen Aussöh­nung­sprozeß in Gang zu brin­gen, auf daß die bewußte Per­son ihre unbe­wußten Per­sön­lichkeit­san­teile, die den Arche­ty­pus des »Schat­tens« bilden, eben­so anzunehmen ver­möchte wie ihre gegengeschlechtlichen Arche­typen, welche für den Mann die »Ani­ma« und für die Frau der »Ani­mus« vorstellen.

Vor allem aber stellte Jung den vom Vaterge­setz ver­drängten Mut­ter­ar­che­ty­pus ins Zen­trum sein­er Betra­ch­tung. Hin­ter dem Ödi­puskom­plex, bei dem das sex­uelle Begehren nach der Mut­ter dank der sym­bol­is­chen Kas­tra­tion durch den Vater über­wun­den wird, stand für Jung ein ele­mentar­erer Inzestkom­plex, der von sym­bi­o­tis­ch­er Regres­sion zur schmerzhafter Indi­vid­u­a­tion führt und der als mythis­ch­er Kampf des Helden mit den Schick­sals­göt­tin­nen exem­plar­ische Gestalt angenom­men hat. Wenn der Men­sch durch die gewalt­same Tren­nung vom müt­ter­lichen Ele­ment als Indi­vidu­um geboren wird, so vol­len­det sich der men­schliche Indi­vid­u­a­tion­sprozeß doch erst durch die Ver­söh­nung mit der »Magna Mater« zu ein­er geisti­gen Neuge­burt.

Erk­lärter­maßen richtete Jung seine Idee ther­a­peutis­ch­er Heilung am spir­ituellen Heil des Men­schen aus. In gnos­tis­chem Geiste suchte er den »Gott in uns« wiederzuer­weck­en, denn das »Selb­st« als tief­ster Kern unser­er Per­sön­lichkeit galt ihm nicht weniger als eine »Ima­go Dei«. Uner­schrock­en gliederte dieser Alchimist der Seele seine Ther­a­pie in die Phasen »Beichte«, »Ein­sicht«, »Erziehung« und »Wand­lung«, nicht ohne damit allen pro­fa­nen Indi­vid­u­al­is­mus hin­ter sich zurück­zu­lassen und der angestrebten Indi­vid­u­a­tion den Charak­ter ein­er religiösen Ini­ti­a­tion in die höheren Wei­hen des Men­sch­seins zu ver­lei­hen.

Das stu­pende Lebenswerk Jungs bee­in­flußte die For­ten­twick­lung der psy­chol­o­gis­chen Wis­senschaften nur mar­gin­al. Zwar wur­den grundle­gende Begriffe sein­er Per­sön­lichkeit­sty­polo­gie wie »Kom­plex«, »Extra­ver­sion« und »Intra­ver­sion« von Hans-Jür­gen Eysenck für die Ver­hal­tenspsy­cholo­gie adap­tiert, um auf diesem Wege Ein­gang in die klin­is­che Psy­cholo­gie der Gegen­wart zu find­en. Das Jungsche Gesamtkonzept jedoch wird selb­st von tiefenpsy­chol­o­gis­chen Rich­tun­gen wei­thin als speku­la­tiv und eso­ter­isch abgelehnt. Dieses Schick­sal teilt die Ana­lytis­che Psy­cholo­gie mit der unmit­tel­bar von ihr inspiri­erten »Transper­son­alen Psy­cholo­gie«, aber auch mit von ferne ver­wandten Schulen wie der postpsy­cho­an­a­lytis­chen »Selb­stpsy­cholo­gie« Heinz Kohuts und der exis­ten­z­an­a­lytis­chen »Logother­a­pie« Vik­tor Fran­kls. Umso größer ist Jungs Ein­fluß auf die Reli­gion­spsy­cholo­gie und die Mythen­forschung, wovon schon seine Zusam­me­nar­beit mit Karl Kerényi zeugt, aus welch­er die Studie Das göt­tliche Kind (1940) her­vorg­ing.

Aus Jungs per­sön­lichem Schülerkreis ragt der sein­er­seits schul­bildende Erich Neu­mann her­aus, dessen bedeut­same Abhand­lung Die große Mut­ter (1955) in die geistige Welt Klages’€™ und Bachofens zurück­führt und nicht zulet­zt als jun­gian­is­che Kom­pen­sa­tion der Ein­seit­igkeit des freudi­an­is­chen Patri­ar­chal­is­mus gele­sen wer­den kann.

 

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Zitat:

Man täuscht sich, wenn man glaubt, das Unbe­wußte sei etwas Harm­los­es, das man zum Gegen­stand von Gesellschaftsspie­len machen könne. Im Unbe­wußten ist eine beson­dere Energiean­häu­fung vorhan­den, näm­lich eine Art von Ladung, die explodieren kann. Man gräbt nach einem arte­sis­chen Brun­nen, und man riskiert, auf einen Vulkan zu stoßen.

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Aus­gabe:

  • 16. Auflage, Son­der­aus­gabe, Düs­sel­dorf: Pat­mos 2009

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Lit­er­atur:

  • Deirdre Bair: C. G. Jung. Eine Biogra­phie, München 2007

  • Jolande Jaco­bi: Die Psy­cholo­gie von C. G. Jung, Olten 1971