Herrschaft und Knechtschaft — Hanno Kesting, 1973

Wer es am Anfang der siebziger Jahre wagte, die »soziale Frage« oder eigentlich »das Soziale« als »säku­laren Mythos« zu deuten, stand allein. Die anderen waren davon überzeugt, daß nichts wichtiger sei als die Lösung dieser Frage, entwed­er indem man die »Unter­priv­i­legierten« zum Auf­s­tand rief oder einen Wohlfahrtsstaat schuf, in dem Gle­ich­heit auf bürokratis­chem Weg hergestellt und garantiert wer­den sollte. Han­no Kest­ing war der, der allein stand und der mit seinem Buch Herrschaft und Knechtschaft – eigentlich ein Großes­say – gegen den tonangeben­den Marx­is­mus auf Hegel (bzw. dessen Inter­pre­ten Alexan­dre Kojéve) zurück­ging und dessen berühmtes Kapi­tel über Herr und Knecht aus der Phänom­e­nolo­gie des Geistes (1807) dahinge­hend inter­pretierte, daß die Vorstel­lung von der unum­schränk­ten Herrschaft des Her­rn und der unum­schränk­ten Knechtschaft des Knechts so niemals ges­timmt habe (wegen der Dialek­tik ihrer Beziehung) und seit der Franzö­sis­chen Rev­o­lu­tion gar keine brauch­baren Inter­pre­ta­tion­s­möglichkeit­en mehr biete, um den Gang der Geschichte zu ver­ste­hen.

Denn fak­tisch hat­te die Partei der Knechte im größeren Teil der Intel­li­genz einen Ver­bün­de­ten oder eine Führung gewon­nen, die unter Hin­weis auf das Soziale maßge­blichen ide­ol­o­gis­chen Ein­fluß nahm und seit dem 19. Jahrhun­dert dazu beitrug, nicht nur das Innen­leben der Staat­en, son­dern auch deren Außen­beziehun­gen entschei­dend zu bes­tim­men. Von der Rev­o­lu­tionsver­hin­derung mit­tels Fab­rikge­set­zge­bung und öffentlich­er Arbeits­beschaf­fung über Bis­mar­cks Sozialge­set­zge­bung bis zu Dis­raelis Sozialimpe­ri­al­is­mus reichte das Spek­trum und wurde im 20. Jahrhun­dert glob­al­isiert, aber inhaltlich nur unwesentlich ergänzt um die total­itären Konzepte rot­er oder brauner Machart und das, was organ­isiert­er Massenkon­sum oder die all­ge­meine Sozialdemokratisierung bewirk­te.

Das Prob­lem, das Kest­ing dabei sah, war, daß der Gesamt­prozeß, »wenn nicht den voll­ständi­gen Sieg des Knechts, so doch den sein­er Mytholo­gie« mit sich brachte, jeden Ver­such zum Scheit­ern verurteilte, die »Herkun­ft aus dem 18. Jahrhun­dert« hin­ter sich zu lassen und zu ein­er auswe­glosen Sit­u­a­tion führte, weil der Jar­gon des Sozialen alle anderen – im eigentlichen Sinn poli­tis­chen – Prob­leme ver­schwinden ließ.

Eine Ein­sicht, an deren Tre­ff­sicher­heit sich seit Erscheinen des Buch­es so wenig geän­dert hat wie an der Verge­blichkeit allen Bemühens, ihr Gel­tung zu ver­schaf­fen.

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Zitat:

Ger­ade darin beste­ht der Welt­bürg­erkrieg der Gegen­wart – der Kampf zweier Aus­gestal­tun­gen des Mythos von Herr und Knecht. Solange auf allen Seit­en in den Kat­e­gorien dieses Mythos gedacht, geplant und gehan­delt wird, scheint kein Ausweg aus der wahrhaft escha­tol­o­gis­chen Sit­u­a­tion möglich.

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Lit­er­atur:

  • Dirk van Laak: Gespräche in der Sicher­heit des Schweigens. Carl Schmitt in der poli­tis­chen Geis­tes­geschichte der frühen Bun­desre­pub­lik, Berlin 1993