Heuchelei und moralische Weltanschauung — Peter Furth, 1997

Die Abschiedsvor­lesung des 1930 gebore­nen Sozial­philosophen Peter Furth ist ein­er der wichtig­sten Beiträge zur geisti­gen Lage im wiedervere­in­ten Deutsch­land. Furth han­delt darin die Bedin­gun­gen ab, unter denen heute die Heuchelei blüht und den Anpas­sungs­druck steigert: poli­tis­ch­er Moral­is­mus, massendemokratis­che Öffentlichkeit, die Men­schheit als höch­stes Kollek­tiv­sub­jekt, Priv­i­legierung des Opfers, öffentlich­es Beken­nt­nis ehe­dem pri­vater Nei­gun­gen. Als ein Extrem der Heuchelei wird das öffentlich insze­nierte Schuldge­fühl der Deutschen unter­sucht, das nach Furth der Tra­di­tion des »Größen­wahns« christlich­er Schuld­ver­ant­wor­tung fol­gt und in der Gedenkre­li­gion des Holo­caust gipfelt.

Zunächst sieht Furth die Heuchelei dur­chaus pos­i­tiv als ein »unwider­stehlich­es Mit­tel der Kul­ti­va­tion«, wo Inner­lichkeit und soziale Forderung nicht zur Deck­ung kom­men. Die Heuchelei ver­mei­det die Entschei­dung zwis­chen zwei gle­ich­starken Motiv­en. Sie schützt vor den Zumu­tun­gen des Kollek­tivs. Sie zeugt aber auch den Gegen­ty­pus zum Mär­tyr­er, den Schein­heili­gen: »Vielle­icht ist es über­haupt der Unwille zur tragis­chen Entschei­dung, der Heuch­ler entste­hen läßt.« Im Bünd­nis mit Schuldge­fühl und moralis­ch­er Weltan­schau­ung aber dringt die Heuchelei ein­er­seits tiefer nach innen und ander­er­seits aggres­siv­er nach außen. Die Kom­bi­na­tion von Schuldge­fühl und Heuchelei macht diese zum Werkzeug eines neuen Total­i­taris­mus – inneres Gefühl und äußeres Beken­nt­nis, Selb­st und Kollek­tiv, fall­en in eins: »Heucheln, nicht um sich zu ver­steck­en, son­dern um andere heucheln zu machen, [das] ist z. B. das Wesen der polit­i­cal cor­rect­ness.« Die Heuchelei wird repres­siv.

Furth, dessen Lauf­bahn bei Adorno am Frank­furter Insti­tut für Sozial­forschung begann, wurde in den achtziger Jahren zum Kri­tik­er jenes »kri­tis­chen Bewußt­seins«, das seine his­torisch-poli­tis­che Potenz an der Neg­a­tiv­ität der Ver­hält­nisse mißt: je schlim­mer diese Ver­hält­nisse, desto größer jene Potenz. Furth ver­weist dage­gen auf die begren­zte Per­fek­tibil­ität des Men­schen, auf seine con­di­tio humana. Er bezieht sich auf zwei Ern­st­fälle: Arbeit und Tod. Gegen die marx­is­tis­che Erlö­sung­shoff­nung, die den Men­schen als Schöpfer­gott über die sozialen Ver­hält­nisse her­aushob, brachte Furth, dur­chaus marx­is­tisch, die Naturbe­d­ingth­eit der Arbeit ins Spiel. Sein Ver­weis auf die Gren­zen des Han­delns und seine unkalkulier­baren Neben­fol­gen wurde aber vor 1989 wed­er in Ost noch in West goutiert. Nach der Wiedervere­ini­gung wurde die wis­senschaftliche von der moralis­chen Weltan­schau­ung abgelöst. Auf die Geschicht­sphiloso­phie fol­gte die Ethisierung von Geschichte, Poli­tik und Welt­poli­tik.

Furth erkan­nte früh, daß die später im Holo­caust-Mah­n­mal gipfel­nde Gedenkkul­tur manichäis­che Züge annahm. Er kri­tisierte nicht die Unter­schei­dung in Gut und Böse, son­dern daß diese Unter­schei­dung vor dem Tod nicht länger halt­machte – ob es um den Stre­it um die Beerdi­gung von Gudrun Ensslin ging oder um die SS-Gräber von Bit­burg. Die Trauer, ganz gle­ich um wen, ist für Furth ein Men­schen­recht. Kein zweites Phänomen wirft für ihn so inten­siv die Frage nach bürg­er­lich­er Verge­sellschaf­tung und sit­tlich­er Verge­mein­schaf­tung auf wie der Tod. Der »epig­o­nale Antifaschis­mus« bewirkt seine eigene Zweit­eilung der Gesellschaft: »Die Schuldge­füh­le der einen sind die Machtchan­cen der anderen.« In Verbindung mit der Tugend barg die Heuchelei schon immer die Gefahr, daß sich mit jed­er gelun­genen Täuschung »die Furcht vor Ent­deck­ung und Strafe nicht min­dert, son­dern mehrt, bis schließlich das Schuldge­fühl so kon­stant ist, daß Heuchelei und Tugend nicht mehr unter­schei­d­bar sind«. Die soziale Angst gener­iert den Willen zur Täuschung, damit aber auch die Gefahr der Selb­st­täuschung, der »Masker­ade nach innen«. Sie ist ins­beson­dere ein Prob­lem der Deutschen, denen unter dem Vor­wurf der »Unfähigkeit zu trauern« als Ersatz für den Schmerz eigen­er Ver­luste jahrzehn­te­lang ein »stel­lvertre­tendes Mit­ge­fühl« für ide­al­isierte Opfer­grup­pen abver­langt wurde – bei gle­ichzeit­igem Ver­bot der Heuchelei.

»Als inner­er Nachvol­lzug äußer­er Schuldzuweisun­gen führt es durch die Heuchelei ver­fes­tigte Schuldge­fühl zu Unter­w­er­fung und Selb­st­preis­gabe, ermöglicht aber ander­er­seits durch die Iden­ti­fika­tion mit den Nor­men der Schuldzuweisung eine Wieder­aufrich­tung des Selb­st und wom­öglich eine neue Über­legen­heit.« Die Schuld wird unter »Hitlers Kindern« zu ein­er Art genetis­chem Schick­sal. Aus dem Schuld­vor­wurf spricht ein umgekehrter Ras­sis­mus. Die deutschen Ankläger scheinen nur nicht zu bemerken, daß der Vor­wurf sie selb­st mit ein­schließt.

– — –

Zitat:

Das öffentlich und rück­halt­los gelebte Schuldge­fühl ist ein wahrer Jung­brun­nen…  Nicht die Ver­stock­ten, die am Schuldge­fühl den Selb­stver­lust fürcht­en, und deshalb bis zulet­zt Schuld­ab­wehr betreiben, ret­ten ihr Selb­st, son­dern umgekehrt ger­ade diejeni­gen, die ihr Selb­st vom Schuldge­fühl verzehren lassen, um unter Beru­fung auf die neuen Werte in frühere Mächtigkeit­en wieder ein­rück­en zu kön­nen.

– — –

Aus­gabe:

  • Wieder­ab­druck in: Peter Furth: Tro­ja hört nicht auf zu bren­nen. Auf­sätze aus den Jahren 1981 bis 2007, Berlin: Landtver­lag 2008, S. 337–365

– — –

Lit­er­atur:

  • Insti­tut für Staat­spoli­tik (Hrsg.): »Meine Ehre heißt Reue«. Der Schuld­stolz der Deutschen, Schnell­ro­da ²2009