Historien — Herodot, 5. Jh. v. Chr.

Das erste Geschichtswerk Europas ver­danken wir Herodot aus dem kleinasi­atis­chen Halikar­nas­sos (heute: Bodrum). Zum »Vater der Geschichtss­chrei­bung« (Cicero) wurde Herodot über zahlre­iche und weite Reisen, wech­sel­nde Wohn-und Wirkungsstät­ten (Samos, Athen, Thu­ri­oi) und eine aus­gedehnte Vor­tragstätigkeit. Sein großes Werk, ent­standen nach 444 v. Chr. in dem abgele­ge­nen Thu­ri­oi an der Süd­küste Ital­iens, zeugt von inner­er Unab­hängigkeit, einem weit­en und bre­it­en Hor­i­zont des Inter­ess­es an allen men­schlichen Din­gen. Herodot hat seine Nach­forschun­gen (his­to­rie) als ein dicht­es und prächtiges Gewebe zahllos­er Erzäh­lun­gen gestal­tet, die auf höchst kun­stvolle Weise aufeinan­der bezo­gen und miteinan­der ver­woben sind. Sie erzählen die Geschichte der Kriege gegen die Pers­er (490–480 v. Chr.), des größten Ereigniss­es der jün­geren Ver­gan­gen­heit der Griechen, und hal­ten zugle­ich deren bis in das 7. Jh. v. Chr. zurück­re­ichende und bis dahin nur mündlich tradierte Erin­nerun­gen fest. In dieses kom­plexe Geschehen wer­den schließlich noch umfan­gre­iche Berichte einge­flocht­en, die sich mit der Geschichte, der Lan­desnatur und den Sit­ten und Gebräuchen fremder Völk­er (etwa der Lyder, Pers­er, Ägypter) befassen.

Die von Herodot erfun­dene His­to­rie ist bis heute das, was wir unter Geschichte ver­ste­hen. Herodot hat als erster Mythos und göt­tlich­es Ein­greifen ganz aus sein­er Betra­ch­tung der Men­schengeschichte her­aus­ge­hal­ten. Er hat sich dafür auf benennbare Infor­ma­tion­squellen gestützt, aus denen er in seinem Kopf und durch seinen Erzähltext ein Bild der Ver­gan­gen­heit geze­ich­net hat. Sie wird einzig durch diese von einem konkreten Indi­vidu­um geleis­tete sprach­liche For­mung zur Geschichte, ein­er neuen Form des Wis­sens für eine Gesellschaft, die ihre Gemein­samkeit in einem poli­tis­chen Raum find­et. Das von den Griechen des 7. und 6. Jhs. v. Chr. ent­deck­te Poli­tis­che ist daher der Nährbo­den für die Geschichte und diese ihrer­seits ein inte­graler Teil der poli­tis­chen Kul­tur. Erst bewußtes Erleben der Gegen­wart, inter­essegeleit­etes Han­deln in ihr und daraus erwach­sendes werthaltiges Urteilen durch den His­torik­er führen zu aus­sagekräfti­gen Bildern von Geschichte. In ihr wird Ver­gan­gen­heit mit Blick auf die Gegen­wart so erzählt, daß sich gegen­wär­tiges Han­deln im Lichte von Geschichte auf Zukun­ft hin zu ori­en­tieren ver­mag. Geschichte ist durch Herodots »öffentlichen Aufweis sein­er Erkun­dung« fol­glich von vorn­here­in ein kom­mu­nika­tiv­er Text, dessen Bedeu­tung stets nur ein Pub­likum erken­nt, das in ihm seine Geschichte begreifen und akzep­tieren kann. Seit Herodot existiert Geschichte als das auf Öffentlichkeit zie­lende Sprachkunst­werk. Erst durch dessen Ästhetik kön­nen die sinnhalti­gen Botschaften der Geschichte zur Wirkung kom­men. Geschichte, so hat Herodot als erster demon­stri­ert, ist vor allem lit­er­arische Kun­st, die heute der wis­senschaftlichen Fundierung zwar nicht ent­behren kann, doch in ihr lediglich eine Voraus­set­zung hat. Ihr Ziel muß es sein, Ver­stand, Sinne und Gefühl gle­icher­maßen zu ergreifen – Herodot bleibt dafür ein immer­währen­des Vor­bild.

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Zitat:

Des Herodot von Thu­ri­oi öffentlich­er Aufweis sein­er Erkun­dung ist dies, auf daß wed­er das von Men­schen Geschehene durch die Wirkung der Zeit verblasse noch die großen und staunenswerten Werke, ob sie nun von Hel­lenen oder von Bar­baren aufgewiesen wur­den, ohne Kunde blieben.

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Aus­gabe:

  • Griechisch und deutsch, hrsg. v. Josef Feix. 2 Bde., München: Heimer­an 1963

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Lit­er­atur:

  • Michael Stahl: Botschaften des Schö­nen. Kul­turgeschichte der Antike, Stuttgart 2008

  • Her­mann Stras­burg­er: Herodot als Geschichts­forsch­er, in: ders.: Stu­di­en zur Alten Geschichte, Bd. 2, Hildesheim 1982