Psychologie der Massen — Gustave Le Bon, 1908

Gus­tave Le Bon, Sozi­ologe, Anthro­pologe, wis­senschaftliche Forsch­er und Wel­treisender, hat sich zu zahllosen The­men schriftlich geäußert, vom Tabakrauchen über die ara­bis­che Zivil­i­sa­tion und die Entste­hung der Materie, über Krankheit­en der Geschlecht­sor­gane, bis hin zur Pferd­e­dres­sur und die Erziehungspsy­cholo­gie.

Sein mit Abstand berühmtestes Werk aber ist die in zweiundzwanzig Sprachen über­set­zte Psy­cholo­gie der Massen. (Der deutsche Titel ist insofern irreführend, als Le Bon foule (Menge) und masse (Masse) keineswegs als Syn­onyme ver­wen­det.)

In diesem zen­tralen Text der Gesellschaftpsy­cholo­gie, die sich fun­da­men­tal von der Psy­cholo­gie des Indi­vidu­ums unter­schei­det, definiert Le Bon die Masse als spon­tanes Zusam­men­treten ein­er Gruppe von einzel­nen im Bann ein­er starken Gefühlswal­lung, die sich infolge von etwas gemein­sam Erlebtem oder Gehörtem ein­stellt. Sie ist kollek­tiv geprägt von lei­den­schaftlich­er Erre­gung: von Haß, Begeis­terung oder Liebe.

Le Bon ver­fol­gt zunächst einen »ganzheitlichen« Ansatz: Sein Grundgedanke ist, daß der Masse als Masse Merk­male zukom­men, die sich in keinem ihrer indi­vidu­ellen Bestandteile wiederfind­en lassen. In diesem Punkt fol­gt er einem der Begrün­der der Sozi­olo­gie, Emile Durkheim (dessen Mei­n­un­gen er anson­sten keineswegs uneingeschränkt teilt), der 1895 in seinen Regeln der sozi­ol­o­gis­chen Meth­ode schrieb: »Die Gesellschaft ist keine bloße Summe von Indi­viduen, son­dern das Sys­tem, das durch ihre Vere­ini­gung entste­ht, stellt eine spez­i­fis­che Real­ität dar, die ihre eige­nen Merk­male aufweist.« Freilich radikalisiert Le Bon diese Beobach­tung, indem er sie auf die Masse und eben nicht auf die Gesamt­ge­sellschaft anwen­det.

Er for­muliert ein »psy­chol­o­gis­ches Gesetz der seel­is­chen Ein­heit der Masse«, aus der eine neue men­schliche Wirk­lichkeit entste­ht, die »Seele der Massen«, die ander­er Natur ist als die geistige Summe der einzel­nen, aus denen sie sich zusam­menset­zt. Diese »Seele« homogenisiert die Masse und beseit­igt gewis­ser­maßen die Unter­schiede zwis­chen ihren Mit­gliedern. Als Teil ein­er Masse hat der einzelne an ihrer »Seele« teil und fällt auf eine prim­i­tive Stufe der Men­schheit zurück, näm­lich auf jene der ele­mentaren Instink­te und Triebe. Zugle­ich verän­dert sich unter dem Ein­fluß der Masse die Per­sön­lichkeit des einzel­nen; er läßt sich von Gefühlen und Ideen bewe­gen, die nicht von Natur aus seine eige­nen sind.

Le Bon mißt also der Bee­in­flußbarkeit durch gegen­seit­ige Ansteck­ung inner­halb der Masse große Bedeu­tung zu. Er zeigt, daß sich die Bere­itschaft ein­er Gruppe zur Unter­w­er­fung gegenüber einem »Führer« unter bes­timmten Umstän­den vervielfacht und die Züge ein­er Art der frei­willi­gen Ver­sklavung annimmt. Das ist umso bedeut­samer, als Massen der Führerschaft ger­adezu zwangsläu­fig bedür­fen, um sich struk­turi­eren zu kön­nen und hand­lungs­fähig zu wer­den. Der Ursprung dieses Bedürfniss­es inter­essiert Le Bon weniger als die Rolle des Führers, die kollek­tive lei­den­schaftliche Energie der Masse in eine bes­timmte Rich­tung zu lenken. Seine Aus­sagen dazu unter­schei­den sich von dem, was Max Weber über den »charis­ma­tis­chen« Herrsch­er geschrieben hat (Le Bon spricht von pres­tige, »Nim­bus«, statt von »Charis­ma«).

Le Bon bringt der Masse unver­hoh­lene Ver­ach­tung ent­ge­gen: »Sie denkt in Bildern, und das her­vorgerufene Bild löst eine Folge ander­er Bilder aus, ohne jeden logis­chen Zusam­men­hang mit dem ersten.« Das Ich geht ganz im Über-Ich, der einzelne in der Gruppe auf, was ihn der Notwendigkeit eines dif­feren­zierten Denkens und Sprechens enthebt. Ander­er­seits gehörte Le Bon zu den ersten, die nach­wiesen, daß Massen auch als Motor poli­tis­ch­er, kul­tureller und gesellschaftlich­er Verän­derun­gen wirken kön­nen, die den Ver­lauf der Geschichte verän­dern und – in einem nicht nur schädlichen Sinn – zur »zivil­isatorischen Erneuerung« beitra­gen. Sein Buch schließt mit der Fest­stel­lung, daß der Anbruch des »Zeital­ters der Massen« mit der gesellschaftlichen Demokratisierung ein­herge­he.

Mus­soli­ni pries die Psy­cholo­gie der Massen, zu deren Lesern Lenin, Stal­in und Mao eben­so zählten wie Roo­sevelt, Churchill, Clemenceau und de Gaulle. Sig­mund Freud sah in Le Bons Beobach­tung, daß die Masse immer vom Unbe­wußten beherrscht wird, eine Illus­tra­tion der »Verän­derun­gen des Ichs inmit­ten ein­er erregten Gruppe«. Viele Kom­men­ta­toren lesen das Buch auch als hellse­herische Analyse ein­er wesentlichen Voraus­set­zung der total­itären Sys­teme des 20. Jahrhun­derts, der Manip­ulier­barkeit der Massen durch Führerper­sön­lichkeit­en. Darüber hin­aus kündigt sich in Le Bons »Masse« schon die »Öffentlichkeit« an, mit der sich die heutige Medi­en­sozi­olo­gie so inten­siv beschäftigt.

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Zitat:

Aus der Bar­barei von einem Wun­schtraum zur Zivil­i­sa­tion geführt, dann, sobald dieser Traum seine Kraft einge­büßt hat, Nieder­gang und Tod – in diesem Kreis­lauf bewegt sich das Leben eines Volkes.

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Aus­gabe:

  • Mit ein­er Ein­führung von Peter R. Hof­stät­ter, Stuttgart: Krön­er 2008

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Lit­er­atur:

  • Serge Moscovi­ci: L’ age des foules, Paris 1981
  • Cather­ine Rou­vi­er: Les idées poli­tiques de Gus­tave Le Bon, Paris 1986