Sils-Maria — Schweiz, Oberengadin

Es gibt promi­nente Orte, von denen ein bes­timmter Zauber aus­ge­ht; und man weiß nicht, ob dieser Zauber eben­so mächtig wirk­te, wenn sein Ort nicht promi­nent gemacht wor­den wäre, wenn der Ort also nicht bere­its seine Wei­he von namhaften Autoritäten erfahren hätte, bevor man ihn sel­ber besuchte. Für Sils-Maria gilt das nicht. Den enor­men land­schaftlichen Reizen der Gegend zwis­chen St. Moritz und Mal­o­ja hätte sich wohl auch dann kaum jemand entziehen kön­nen, wenn Niet­zsche dort nie gewe­sen wäre. Doch freilich hat Niet­zsche das beschauliche Dorf im Oberen­gadin berühmt gemacht. Man kön­nte ihn sog­ar für dessen »Ent­deck­er« hal­ten, obwohl es auf der 1 812 Meter über dem Meer­esspiegel gele­ge­nen Hochebene und um die bei­den Seen, Lej da Segl und Lej da Sil­vaplau­na, herum schon Touris­mus gab, bevor Niet­zsche im Jahre 1881 seinen ersten  Som­mer dort ver­brachte und den Ort von da an bis zu seinem let­zten Aufen­thalt, 1888, zumeist über­schwenglich lobte: »Die Wege, Wälder, Seen, Wiesen sind wie für mich gemacht.«

Dabei war Niet­zsche eher zufäl­lig dor­thin gelangt, näm­lich nach­dem er bere­its 1879 St. Moritz besucht hat­te und von einem Ein­heimis­chen auf den nahegele­ge­nen Ort hingewiesen wurde, als
der Philosoph nach einem noch ruhigeren Plätzchen suchte. In dem bald rauhen, bald lieblichen Kli­ma des Hochge­birges, »wo Ital­ien und Finn­land zum Bunde zusam­men gekom­men sind«, »6 000 Fuß über dem Meere und viel höher über allen men­schlichen Din­gen«, hat Niet­zsche, »in dieser beständi­gen son­ni­gen Octo­ber­luft«, u. a. auch den größten Teil sein­er philosophis­chen Dich­tung Also sprach Zarathus­tra ver­faßt. Tat­säch­lich scheint das ungewöhn­lich erhabene, mas­sive Berg­panora­ma von sel­tener Schön­heit, das den Ort umschließt, über­aus geeignet dafür zu sein, den Adler des Genius in eisige Höhen auf­steigen zu lassen und Gedanken zu fassen, denen es im Flach­land vielle­icht an Moti­va­tion und Authen­tiz­ität gefehlt hätte. Niet­zsche erkan­nte in dieser Land­schaft eine »Dop­pel­gän­gerei der Natur. – In manch­er Natur-Gegend ent­deck­en wir uns sel­ber wieder, mit angenehmem Grausen; … in dem gesammten anmuthig ern­sten Hügel‑, Seen- und Wald-Charak­ter dieser Hochebene, welche sich ohne Furcht neben die Schreck­nisse des ewigen Schnees hin­ge­lagert hat … – wie glück­lich Der, welch­er sagen kann: “es giebt gewiss viel Grösseres und Schöneres in der Natur, diess aber ist mir innig und ver­traut, blutsver­wandt, ja noch mehr”.«

So waren es beson­ders die Kün­stler, ja die Artis­ten unter den Denkern und Lit­er­at­en, die sich for­t­an von diesem Ort magisch ange­zo­gen fühlten. Ab 1900 wurde Sils-Maria ger­adezu zum Wall­fahrt­sort für die vie­len Verehrer des Philosophen. Man reiste allein, um sich ganz der Aura des Ortes hinzugeben, oder man traf sich zum gemein­samen Wan­dern oder zum Win­ter­sport, oder nutzte die Hochebene als Tre­ff­punkt zum geisti­gen Aus­tausch. Seit­dem fan­den sich zahllose Kün­stler und Intellek­tuelle dort ein, um sich von der beson­deren Atmo­sphäre inspiri­eren zu lassen oder pri­vat oder auf Sym­posien zu disku­tieren. Thomas Mann hielt das Oberen­gadin für den »schön­sten Aufen­thalt der Welt«, und Her­mann Hesse (žMonte Ver­ità) sprach begeis­tert von dieser Land­schaft als ein­er ihm »schick­sal­haft zugedacht­en«, die von allen Land­schaften am stärk­sten auf ihn gewirkt habe. Got­tfried Benn, obwohl nie in Sils-Maria gewe­sen, brachte die melan­cholisch-trotzige Stim­mung, die für so viele von diesem Ort aus­ging, in seinem Gedicht »Den­noch die Schw­ert­er hal­ten« auf den Punkt:

Der sozi­ol­o­gis­che Nen­ner,
der hin­ter Jahrtausenden schlief,
heißt: ein paar große Män­ner
und die lit­ten tief.
Heißt: ein paar schweigende Stun­den
in Sils-Maria Wind,Erfüllung ist schw­er von Wun­den,
wenn es Erfül­lun­gen sind.

Zuvor hat­te sich Niet­zsche ganz anders und doch auf ähn­liche Weise lyrisch über die fatal­is­tis­che Kraft der Land­schaft geäußert. In seinem Gedicht »Sils-Maria« heißt es:

Hier sass ich, wartend, wartend, –
doch auf Nichts,
Jen­seits von Gut und Böse, bald des Lichts
Geniessend, bald des Schat­tens,
ganz nur Spiel,
Ganz See, ganz Mit­tag, ganz Zeit ohne Ziel.

Noch heute wirbt der Ort mit der eigen­tüm­lichen »Kraft«, die er spende. Auch mit der Ruhe, die man dort vorfinde. Doch eben jene Pop­u­lar­ität hat inzwis­chen dafür gesorgt, daß Ruhe oder gar Stille kaum mehr anzutr­e­f­fen sind. Bei gutem Wet­ter über­fluten Massen an Tages­touris­ten die Hochebene, dazu wer­den jährlich mehr als 350 000 Über­nach­tun­gen ver­bucht, wodurch, umgerech­net auf seine 750 Ein­wohn­er, der Ort laut Gast­stät­ten­sta­tis­tik der touris­tisch am meis­ten aus­ge­lastete der gesamten Schweiz ist, wie die Gemeinde stolz bemerkt. Doch damit nicht genug: Es verge­ht keine Sai­son ohne dauern­den Baulärm, denn im »Kul­tur und Kraftort« Sils-Maria nimmt die Urban­isierung kein Ende.

Dessen ungeachtet hat die Berg­land­schaft aber natür­lich nichts von ihren beein­druck­enden Reizen ver­loren. Und die Aura über­höht­en, freien, ein­samen wie hero­is­chen Denkens ist angesichts des unvergänglichen Panora­mas auch noch spür­bar. Tat­säch­lich liegt die Bedeu­tung des Ortes in der Kom­bi­na­tion dieser bei­den »Ereignisse«, die einan­der zu bedin­gen scheinen: Ver­führt die Hochebene zu gewagten Gedanken­flü­gen, oder muß man bere­its von der Art des Adlers sein, um sich in dieser zwar bisweilen far­ben­prächti­gen, aber auch kar­gen, rauhen Gegend heimisch fühlen zu kön­nen?

Die Geis­tes­men­schen von einst reizten gewiß das Schick­sal und der Lebensstil des »Ein­siedlers von Sils-Maria«, der sich sel­ber gern als »Höh­len­bär« beze­ich­nete, aber auch das Gle­ich­nis des Adlers auf sich anwandte, welch­er in eisi­gen Höhen ein­sam seine Kreise zieht. Dieser Typus hat in den let­zten fün­fzig Jahren jedoch deut­lich an Attrak­tiv­ität ver­loren, weshalb Niet­zsche und das Denken Niet­zsches inzwis­chen auch im Oberen­gadin mehr einen folk­loris­tis­chen Sta­tus genießen. Dafür sind andere ein paar Plätze nach vorne gerückt, die dem heute gewün­scht­en Typus eher entsprechen; etwa Annemarie Schwarzen­bach: als Frau, Homo­sex­uelle und belan­glose Autorin, aber engagierte Jour­nal­istin, verkör­pert sie jene Eigen­schaften, mit denen sich der kul­turell geläuterte Europäer des 21. Jahrhun­derts viel leichter iden­ti­fizieren kann. So ste­ht Sils-Maria auch für den Werte­wan­del und Type­n­wech­sel der tur­bu­len­ten let­zten Jahrhun­derte – wovon die prächti­gen Berge in ihrer stein­er­nen Ewigkeit jedoch völ­lig unbeein­druckt geblieben sind.

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Lit­er­atur:

  • Peter André Bloch: Niet­zsche-Haus in Sils-Maria, Sils-Maria 2010
  • Iso Car­matin: Von Sils-Maria aus betra­chtet. Aus­blicke vom Dach Europas”, Frank­furt a. M. 1991
  • Paul Raabe: Spaziergänge durch Niet­zsches Sils-Maria, Zürich/Hamburg 1996