Verlust der Mitte — Hans Sedlmayr, 1948

Bere­its in seinen früheren Arbeit­en, vor allem zur mit­te­lal­ter­lichen Kun­st und zur Barockar­chitek­tur und ‑malerei, bestach Sedl­mayr durch seine her­aus­ra­gende Fähigkeit zur Über­schau über Epochen und Stile und zur Her­ausar­beitung ihrer struk­turellen und geis­tes­geschichtliche Beson­der­heit­en. Sedl­mayr gilt als Meis­ter­schüler Alois Riegls, dem er 1936 auf dessen Wiener Lehrstuhl nach­fol­gte. Sedl­mayr, der Mit­glied der NSDAP gewe­sen war, war seit 1951 Ordi­nar­ius in München und seit 1965 lehrte er an der Uni­ver­sität Salzburg.

In bril­lantem Stil beleuchtet Sedl­mayr in seinem Ver­lust der Mitte das 19.  Jahrhun­dert als eine Epoche des Stil­ver­lustes und ein­er zunehmenden Zer­split­terung der Kün­ste. Die neuen Auf­gaben, die sich der Kun­st in der tech­nisch geprägten mod­er­nen Welt zeigen, kon­nten nicht mehr in ein­er Gesamt­sicht bewältigt wer­den.

Ein wesentlich­er kri­tis­ch­er Ein­wand gilt der Rück­führung von Malerei auf Zeich­nung und Sil­hou­ette und der Begren­zung auf das vorder­gründig Sicht­bare. Dabei wer­den auch innere Wider­sprüche der Mod­erne diag­nos­tiziert. Ein­er­seits ver­suchen die Kün­ste, sich pein­lich genau in ihren jew­eili­gen Gat­tungs­gren­zen zu erhal­ten; ander­er­seits kommt es zu ein­er Gren­zver­wis­chung zur Natur, zu Regres­sio­nen, zu Anlei­hen bei der Maschi­nen­tech­nik, aber auch bei »prim­i­tiv­en« Her­vor­bringun­gen oder eth­nol­o­gis­chen Zeug­nis­sen. »Kon­struk­tivis­mus« und Stilplu­ral­is­mus führen zu Symp­tomen wie dem »schreien­den Bild«, der chao­tisch ent­fes­sel­ten Malerei und einem ver­nich­t­en­den Urteil über den Sur­re­al­is­mus als unmask­ierte Evoka­tion des absoluten Chaos. Tor­so und Frag­ment dominieren.

Aus einzel­nen schar­fen Beobach­tun­gen sucht Sedl­mayr eine umfassendere Tiefen­struk­tur freizule­gen. Sie ergibt eine Ten­denz mod­ern­er bilden­der Kun­st zu Aus­son­derung und Polar­isierung, zur Loslö­sung von der Veror­tung des Men­schen. Zen­tral – und ger­adezu gle­ichbe­deu­tend mit dem Ver­lust der Mitte – ist nach Sedl­mayr die Preis­gabe des Humanum selb­st, eines ori­en­tieren­den Maßes des Men­schen. In all diesen Symp­tomen erken­nt Sedl­mayr die Indizien ein­er total­en Störung. Eine Autonomie-Kun­st, die sich vom Zusam­men­hang zwis­chen dem Men­schen und Gott getren­nt hat, führt zurück ins Unge­formte oder ins Anor­gan­is­che – und let­ztlich in die Bar­barei. Man wird nicht fehlge­hen, wenn man eine ähn­liche Diag­nose Thomas Manns Roman Dok­tor Faus­tus (1947) im Blick auf die mod­erne Musik abli­est.

Ein­drucksvoll sind auch Sedl­mayrs Ver­suche, Vor­läufer der mod­er­nen Kun­st namhaft zu machen, etwa im Manieris­mus, bei Hierony­mus Bosch oder in der Spätro­man­tik. Er diag­nos­tiziert für die Zeit zwis­chen 1770 und 1840 einen Krankheitsver­lauf, der von der »Befreiung« zur »Vernei­n­ung« der Kun­st geführt hat.

Sedl­mayr ver­sagt sich eben­sowenig die Prog­nose, wobei er von zwei offe­nen Möglichkeit­en aus­ge­ht: Ein­er­seits kön­nte eine neue Weltkul­tur den Charak­ter der Gegen­wart auf die Spitze treiben; ander­er­seits sei es auch denkbar, daß sie ein Über­gangssymp­tom bleibt. Dies würde aber erfordern, daß auf die tech­nis­che Unifizierung der Welt eine geistige Ein­heit fol­gt. Für uner­läßlich gilt Sedl­mayr in diesem Zusam­men­hang ein »organ­is­ches Ver­hält­nis zur Ver­gan­gen­heit« und die Wiedergewin­nung ein­er Hier­ar­chie in den Kün­sten, die let­ztlich auf ihren Ursprung aus Gottes­di­enst und Kul­tus zurück­zuführen hätte. Durch den Ver­lust der Mitte ist der Thron des erscheinen­den Gottes leer. Dabei for­muliert Sedl­mayr als Par­a­dig­ma, daß in den sich verän­dern­den und krisen­haften Zustän­den »das ewige Bild des Men­schen festzuhal­ten und wieder­herzustellen« ist.

Sedl­mayrs Kri­tik an mod­ern­er Kun­st ist fun­da­men­tal. Sie ver­wen­det aber nicht ein­fach altkon­ser­v­a­tive Stereo­typen oder die Formel der »Dekadenz«, vielmehr ver­sucht sie das Spez­i­fis­che der neuen »Störun­gen« zu erfassen und aus his­torisch­er und geis­tes­geschichtlich­er Betra­ch­tung her­aus die lei­t­en­den Ten­den­zen sicht­bar zu machen. Die zer­broch­enen For­men der Mod­erne sind dort, wo sie sich nicht auf Manier und Marotte reduzieren, Seis­mo­graphen der Krise der Mod­erne und tra­gen sog­ar das Lei­den am Tod Gottes stel­lvertre­tend aus. Doch auch über diese Befunde geht Sedl­mayr noch hin­aus, in ein­er Betra­ch­tung, vor welch­er der Begriff der Mitte erst Gestalt gewin­nt. Er ist bei Sedl­mayr keineswegs nur geis­tes­geschichtlich, son­dern tran­szen­dent the­ol­o­gisch gedacht. Deshalb geht es ihm auch nicht um die Rekon­struk­tion von Geschichte, son­dern die Frage nach der Mitte der Geschichte. Dies ist mit zu berück­sichti­gen, wenn man Sedl­mayrs Mit­te­lal­ter­bild Stil­isierung und Funk­tion­al­isierung vor­wirft, so wie dies in jün­ger­er Zeit wieder­holt geschehen ist.

Sedl­mayr hat gewiß kein gerecht­es und aus­ge­wo­genes Spek­trum der ästhetis­chen Mod­erne ent­wor­fen. Arnold Gehlens Stu­di­en zur mod­er­nen Malerei kön­nten vielfach als Kor­rek­tiv fir­mieren. Seldl­mayr hat aber durch die Konzen­tra­tion auf ihre Patholo­gien einen bemerkenswerten Gege­nen­twurf geleis­tet, dessen Frage nach dem Wesen eine entsch­iedene und ein­drucksvolle Gegenkonzep­tion zum Kon­struk­tivis­mus heutiger kul­tur­wis­senschaftlich­er Mod­en sein kann. Er zielt mit seinem Buch, das sein­erzeit heftige Kon­tro­ver­sen (u. a. mit Theodor W. Adorno) provozierte, auch auf einen Kun­st­be­griff jen­seits des l´€art pour l´€™art im Blick auf eine let­ztlich kul­tisch hier­atis­che Ver­ankerung der Kun­st.

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Zitat:

Die Hoff­nung liegt dort, wo am tief­sten unter diesen Zustän­den gelit­ten wird. Dazu aber ist zu sagen: daß unter all dem im 19. und 20. Jahrhun­dert mit am tief­sten die Kün­stler gelit­ten haben, ger­ade diejeni­gen, deren Auf­trag es war, in furcht­baren Visio­nen den Sturz des Men­schen in sein­er Welt sicht­bar zu machen. Es gibt im 19. Jahrhun­dert einen ganz neuen Typus des lei­den­den Kün­stlers, des ein­samen, des irren­den, des verzweifel­ten, des am Rande des Wahnsinns ste­hen­den Kün­stlers, den es früher höch­stens als Einzel­nen gegeben hat.

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Aus­gabe:

  • 11. Auflage, Salzburg: Müller 1998

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Lit­er­atur:

  • Eva Frodl-Kraft: Hans Sedl­mayr, in: Wiener Jahrbuch für Kun­st­geschichte 44 (1991)
  • Andreas Prater: Rev­o­lu­tion und Wahrheit. Anmerkun­gen zum Geschichtsver­ständ­nis Hans Sedl­mayrs, in: Zeitschrift für Ästhetik und all­ge­meine Kunst­wissenschaft 45 (2000)