Pareto, Vilfredo — Wirtschaftswissenschaftler, 1848–1923

In die Ideen des Fortschritts, der Nüt­zlichkeit und der aufgek­lärten Ver­nun­ft hineingewach­sen, durch seine wis­senschaftliche Lauf­bahn zu ihrem Ver­fechter prädes­tiniert, wan­delte sich Pare­to zu einem ihrer mächtig­sten Entza­uber­er. Lange vergessen, ist er seit etwa 1950 in Ital­ien und Frankre­ich ein neu bedachter Autor; die Rezep­tion in Deutsch­land bleibt dage­gen bis heute dürftig, seine Texte sind in nur weni­gen Auszü­gen zugänglich, seine Etiket­tierung als „Klas­sik­er der Sozi­olo­gie“ ist ganz formell gehal­ten.

Pare­to, geboren am 15. Juli 1848 in Paris, studierte am Poly­tech­nikum in Turin (1869 Inge­nieurex­a­m­en). Danach übte er für zwei Jahrzehnte seinen Beruf in lei­t­en­den Stel­lun­gen bei Eisen­bah­nge­sellschaften in Rom und Flo­renz aus. In dieser ersten Phase des neuen Kön­i­gre­ichs Ital­ien ver­trat Pare­to anfänglich ultra­l­ib­erale Posi­tio­nen, pub­lizis­tisch und in diversen Vere­ini­gun­gen. Als er 1882 mit ein­er Kan­di­datur für das ital­ienis­che Par­la­ment scheit­erte, war seine demokratisch-human­itäre wie nationale Begeis­terung jedoch bere­its unter dem Ein­druck der ein­heimis­chen poli­tis­chen Entwick­lung der Ernüchterung gewichen. For­t­an wid­mete er sich auss­chließlich seinen volk­swirtschaftlichen Stu­di­en, welche die math­e­ma­tisch aus­gerichtete Gren­znutzen­schule mit­be­grün­de­ten (bis heute gilt sein The­o­rem des „Pare­to-Opti­mum“ in der Wohlfahrt­sökonomie). Uner­wartet erhielt er 1893 ein Lehramt für Poli­tis­che Ökonomie an der Uni­ver­sität Lau­sanne. Bin­nen kurzem begann Pare­to, die Mod­elle der reinen Ökonomie sozial­wis­senschaftlich zu kom­plet­tieren, es brauchte aber noch bis 1916, ehe er sein Opus Mag­num vor­legten kon­nte, den Trat­ta­to, ein labyrinthis­ches Riesen­werk von 1700 Seit­en, wom­it er sich einen gewis­sen Zeitruhm erwarb. An den poli­tis­chen Vorgän­gen in sein­er Heimat nahm Pare­to zu diesem Zeit­punkt wesentlich beobach­t­end teil; das gilt auch für den Auf­stieg des Faschis­mus, den er mit einem gewis­sen Wohlwollen ver­fol­gte, ohne daß er – auf Grund seines frühen Todes – dessen Ent­fal­tung noch analysieren und beurteilen kon­nte.

Wie in der Ökonomie fragt Pare­to nach Bedin­gun­gen sozialen Gle­ichgewichts, ver­weigert sich hinge­gen dem dort üblichen Ver­weis auf den Nutzen von Tauschbeziehun­gen. Zu sehr hat­te sich ihm durch per­sön­liche Erfahrung und his­torische Stu­di­en aufge­drängt, daß sich Men­schen mehrheitlich nicht von ratio­nalen Zweck-Mit­tel-Erwä­gun­gen leit­en lassen. Demzu­folge konzen­tri­ert er sich auf „nicht-logis­che“ Hand­lun­gen, die er auf regelmäßige Abläufe hin prüft und in einem kom­plex­en Kat­e­gorien­schema ver­ar­beit­et. Let­ztes Movens men­schlich­er Aktiv­ität sind Gefühls- und Gemüt­skräfte, irra­tionale Impulse, die sich dem Beobachter freilich nur in ihren Man­i­fes­ta­tio­nen zeigen: Die „Derivate“ sind die objek­tiv fest­stell­baren Hand­lungs­ket­ten: die „Deriva­tio­nen“ ihre (logisch daherk­om­menden, ratio­nal klin­gen­den) Recht­fer­ti­gun­gen, die Sinnstrate­gien seit­ens der Beteiligten oder Inter­pre­ten; die „Residuen“ die psy­chisch kon­stan­ten, aber meist unbe­wußten, gewohn­heitsmäßi­gen, ratio­nal nicht intendierten Antrieb­skräfte. (So entspricht zum Beispiel dem Residu­um „Beziehung zwis­chen Leben­den und Toten“ ein Hand­lungstyp „Totenehrung und –erschei­n­ung“, der in die Gle­ich­för­migkeit­en von „Begräb­nis­riten, Totenkulte und Telepathie“ mün­det.) Beson­der­er Aufmerk­samkeit wert sind ihm die innovieren­den und die kon­so­li­dieren­den Gestal­tungs- und Wil­len­skräfte der Gesellschaft.

Derivate, Deriva­tio­nen und Residuen – der Chemie ent­nommene Begriffe – sind gemein­sam mit ratio­nalen Inter­essen die vier Ele­mente, deren inter­de­pen­dentes Wech­sel­spiel eine labile soziale Bal­ance her­stellt und für deren Zusam­men­wirken Pare­to eine Über­fülle an his­torisch-ver­gle­ichen­dem Mate­r­i­al illus­tra­tiv her­anzieht. In ein­drucksvoller Darstel­lung son­dert er die invari­anten, vor­reflex­iv­en Motive der Akteure von ihren vari­ablen, his­torisch zufäl­li­gen sym­bol­is­chen Repräsen­ta­tio­nen. Dabei ermit­telt er auch eine Rei­he von his­torischen Rhyth­men (ähn­lich wie in den ökonomis­chen Kon­junk­turzyklen), etwa die des per­ma­nen­ten Aus­tauschs der herrschen­den Eliten.

Die Deriva­tio­nen umfassen alle Ideen, Reli­gio­nen, The­o­rien, „ismen“, Legit­im­itäts­diskurse und Lehren (von den Zehn Geboten über den Kat­e­gorischen Imper­a­tiv bis zur Idee der Volkssou­veränität), die Kollek­tive zu einem bes­tim­men Han­deln ver­an­lassen, indem sie bei den zugrun­deliegen­den nich­tra­tionalen Impulsen einen Res­o­nanz­bo­den find­en beziehungsweise ihnen Aus­druck ver­lei­hen. Die herrschen­den Klassen bedi­enen sich dazu rhetorisch­er Fig­uren – Pare­to nen­nt sie zuweilen Dem­a­gogien -, die ihre Ambi­tio­nen teils ver­ber­gen sollen, oder ihnen spon­tan-überzeugt, als Gesin­nung, aufgestülpt wer­den.

Pare­tos Skep­sis gegenüber einem Hand­lungsmod­ell nach Regeln der Ver­nun­ft,  – es vom Kopf auf die Füße stellen wäre auch sein Wahlspruch gewe­sen — bedeutet im Kern, daß sich jede Gesellschaft aus let­zten Wer­tentschei­dun­gen kon­sti­tu­iert und sie sich immer irgend ein­er Art von Ratio­nal­isierung in Form von Reli­gion oder Weltan­schau­ung zu ihrer Verdeut­lichung oder Ver­schleierung bedi­enen wird und bedi­enen muß. Damit wäre auch die Auf­gabe ein­er heuti­gen Sozial­wis­senschaft, die beherrschen­den Mei­n­un­gen (sprich: Deriva­tio­nen) ihrer ver­balen Masken zu entk­lei­den und sie in ihren tat­säch­lich wirk­mächti­gen Zusam­men­hang mit (nicht­l­o­gis­chen) Bedürfnis­sen, Inten­tio­nen und Bestre­bun­gen einzustellen und nur von daher ihre Leis­tung für soziale Sta­bil­ität und Wan­del zu attestieren.

Vil­fre­do Pare­to ver­starb am 19. August 1923 in Céligny (Schweiz).

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Zitat:

Selb­st wenn man zugibt, … daß die Mehrheit fähig ist einen Willen zu haben, zeigt die Erfahrung, daß dieser Wille, dem Anschein nach allmächtig, es ist in Wirk­lichkeit kaum ist und daß er durch die Lis­ten und Ränke der Regieren­den zunichte gemacht wird. Es ist möglich, daß er herrscht, es ist sich­er, daß er nicht regiert.

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Schriften:

  • Trat­ta­to di soci­olo­gia gen­erale [1916], Tori­no 1988
  • Auszüge in deutsch­er Sprache bei Got­tfried Eis­er­mann: Vil­fre­do Pare­tos Sys­tem der all­ge­meinen Sozi­olo­gie. Ein­leitung, Texte und Anmerkun­gen, Stuttgart 1962
  • Aus­gewählte Schriften, hrsg. von Car­lo Mon­gar­di­ni, Wies­baden 2007

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Lit­er­atur:

  • Piet Tom­mis­sen: Vil­fre­do Pare­to, in: Dirk Käsler (Hrsg.): Klas­sik­er des sozi­ol­o­gis­chen Denkens, Bd. 1, München 1976
  • Arnold Gehlen: Vil­fre­do Pare­to und seine „neue Wis­senschaft“ [1941], in: Gesam­taus­gabe, Bd. 4, Frank­furt a. M. 1983
  • Got­tfried Eis­er­mann: Vil­fre­do Pare­to. Ein Klas­sik­er der Sozi­olo­gie, Tübin­gen 1987
  • Mau­r­izio Bach: Jen­seits des ratio­nalen Han­delns. Zur Sozi­olo­gie Vil­fre­do Pare­tos, Wies­baden 2004