Was ist eine Nation? — Ernest Renan, 1882

Ernest Renan machte sich vor allem als Reli­gion­swis­senschaftler einen Namen. Dieses Büch­lein, das in Frankre­ich längst als Klas­sik­er gilt, erschien erst mit beina­he 120 Jahren Ver­spä­tung in deutsch­er Sprache. Der Text ist immer wieder als Beispiel für ein typ­isch franzö­sis­ches, will heißen: rein his­torisch und poli­tisch konzip­iertes, Ver­ständ­nis von Nation gele­sen wor­den. Diesem wird dann der deutsche Begriff ein­er eher kul­turell und eth­nisch definierten Nation gegenübergestellt – ein Gegen­satz, der weit­ge­hend jen­em zwis­chen demos und eth­nos entspricht. Wer aber Renans Gedankengänge auf diese plaka­tive Formel reduziert, ken­nt in der Regel nur die am häu­fig­sten zitierten Pas­sagen sein­er Rede.

Sie in ihrer Gesamtheit zu lesen, heißt zu begreifen, daß ihr Inhalt sich nicht auf die berühmt gewor­dene For­mulierung beschränkt, der zufolge die Nation ein täglich­er Volk­sentscheid, ein »plébiscite de tous les jours« sei. Anstelle der vol­un­taris­tis­chen Vorstel­lung von ein­er Nation, die ihre Mit­glieder einzig auf der Grund­lage eines wie auch immer geart­eten  Ver­fas­sungspa­tri­o­tismus« vere­int, legt Renan größten Wert auf den Fortbe­stand des Ver­gan­genen im Gegen­wär­ti­gen. »Die Ahnen«, schreibt er, »die Ahnen haben uns zu dem gemacht, was wir sind, eine hero­is­che Ver­gan­gen­heit, große Män­ner, Ruhm (ich meine den wahren) – das ist das soziale Kap­i­tal, worauf man eine nationale Idee grün­det.« Jedoch sei eine noch so ruh­mvolle Ver­gan­gen­heit nichts ohne den Willen der Heuti­gen, sie fortzuset­zen, zu beer­ben, indem man ihr neue For­men ver­lei­ht: »Eine Nation ist also eine große Sol­i­darge­mein­schaft, getra­gen von dem Gefühl der Opfer, die man gebracht hat, und der Opfer, die man noch zu brin­gen gewil­lt ist. Sie set­zt eine Ver­gan­gen­heit voraus, aber trotz­dem faßt sie sich in der Gegen­wart in einem greif­baren Fak­tum zusam­men: der Übereinkun­ft, dem deut­lich aus­ge­sproch­enen Wun­sch, das gemein­same Leben fortzuset­zen. « Eben dadurch dient sie dem »gemein­samen Werk der Zivil­i­sa­tion«.

Man sollte dabei nicht vergessen, daß der gebür­tige Bre­tone Renan sich zeit seines Lebens der »keltischen Seele«, wie er sagte, ver­bun­den fühlte. In sein­er Antrittsvor­lesung am Col­lége de France sprach er über die Unter­schiede zwis­chen der »Wüstenpsy­che« der semi­tis­chen Völk­er (»die Wüste ist monothe­is­tisch«) und der »Waldpsy­che«, die er hin­ter dem indoeu­ropäis­chen Poly­the­is­mus aus­machte.

Renan unter­schied deut­lich zwis­chen dem his­torisch rel­a­tiv jun­gen Nation­al­itäten­prinzip und dem »Rassen­prinzip«. In unser­er Epoche, so Renan, gebe es keine reinen Rassen mehr, weswe­gen die »Völk­erkunde« auch niemals die Sozi­olo­gie oder die Poli­tolo­gie erset­zen könne (»die men­schliche Geschichte unter­schei­det sich wesentlich von der Zoolo­gie«): »Die edel­sten sind jene Län­der – Eng­land, Frankre­ich, Ital­ien –, bei denen das Blut am stärk­sten gemis­cht ist. Ist Deutsch­land in dieser Hin­sicht eine Aus­nahme? Ist es ein rein ger­man­is­ches Land? Welche Illu­sion! Der ganze Süden war gal­lisch, der ganze Osten, von der Elbe an, ist slaw­isch.«

Eine gemein­same Sprache begün­stigt zwar die Vere­ini­gung, ohne sie jedoch zu erzwin­gen: »Die Sprache lädt  dazu ein, sich zu vere­inen; sie zwingt nicht dazu. Die Vere­inigten Staat­en und Eng­land, das spanis­che Ameri­ka und Spanien sprechen dieselbe Sprache und bilden doch keine Nation. Im Gegen­teil, die Schweiz, die so wohlgelun­gen ist, weil sie durch Übereinkun­ft ihrer ver­schiede­nen Teile ent­stand, zählt drei oder vier Sprachen. Beim Men­schen gibt es etwas, was der Sprache über­ge­ord­net ist: den Willen.«

Zehn Jahre zuvor, in der Folge der franzö­sis­chen Nieder­lage von 1871, ver­trat Renan in La réforme intel­lectuelle et morale (1875) noch weitaus kon­ser­v­a­ti­vere Posi­tio­nen, bis hin zu ein­er Rückbesin­nung auf die Tugen­den von Monar­chie und Feu­dalge­sellschaft, als er das in Was ist eine Nation? getan hat.

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Zitat:

Eine Nation ist eine Seele, ein geistiges Prinzip. Zwei Dinge, die in Wahrheit nur eins sind, machen diese Seele, dieses geistige Prinzip aus. Eines davon gehört der Ver­gan­gen­heit an, das andere der Gegen­wart. Das eine ist der gemein­same Besitz eines reichen Erbes an Erin­nerun­gen, das andere ist das gegen­wär­tige Ein­vernehmen, der Wun­sch zusam­men­zuleben, der Wille, das Erbe hochzuhal­ten, welch­es man ungeteilt emp­fan­gen hat.

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Aus­gabe:

  • Einze­laus­gabe, Ham­burg: EVA 1996

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Lit­er­atur:

  • Edouard Richard: Ernest Renan. Penseur tra­di­tion­al­iste?, Aix-en-Provence 1996