Wien – Hofburg

Mit der Wiener Hof­burg verbindet der Durch­schnittsöster­re­ich­er heute wohl vor allem rauschende Ball­nächte, Strauß- und Mozart-Konz­erte – ins­beson­dere zu Neu­jahr –, Lip­iz­zan­er­shows, einen Touris­tik­moloch mit »Sisi-Shop« und die Tat­sache, daß dort der direkt vom Volk gewählte Bun­de­spräsi­dent resi­diert. Wer sich den Luxus leis­ten kann, hat die Möglichkeit, einzelne Räume für fes­tliche Gele­gen­heit­en zu mieten – zu diesem Zweck wer­den kostengün­stige Gala‑, Wei­h­nachts- und Hochzeits-»Packages« ange­boten.

Der öster­re­ichis­che Präsi­dent thront in einem wahren Palast, dessen repräsen­ta­tive Wucht in keinem Ver­hält­nis mehr zum Repräsen­tierten ste­ht und um den ihn die Ober­häupter ander­er klein­er Repub­liken nur benei­den kön­nen. So hat es die Demokratisierung mit sich gebracht, daß heute auch Zwerge auf Kaiserthro­nen sitzen dür­fen, allerd­ings nur so lange, bis in der näch­sten Amtspe­ri­ode ein ander­er Zwerg an der Rei­he ist.

Dage­gen haben wohl nur mehr wenige Öster­re­ich­er ein Bewußt­sein davon, daß es sich bei der Hof­burg um eines der bedeu­tend­sten Zen­tren der europäis­chen Geschichte über­haupt han­delt. Im Reich­skan­zleitrakt, der 1723–30 u. a. nach Entwür­fen des Architek­ten der Karl­skirche, Joseph Fis­ch­er von Erlach, erbaut und 1889–93 erweit­ert wurde, amtierte einst der Reichshofrat, die wichtig­ste Behörde des Heili­gen Römis­chen Reich­es Deutsch­er Nation. Die Hof­burg war seit 1278 Res­i­denz der Hab­s­burg­er, die von öster­re­ichis­chen Lan­desh­er­ren zu deutschen Köni­gen und
römis­chen Kaisern auf­stiegen und damit eine entschei­dende Rolle im Schick­sal Europas spiel­ten. Par­al­lel dazu ist sie im Laufe der Jahrhun­derte zu einem vielgestalti­gen Gebäudekom­plex herangewach­sen. An dessen aus­dehnungsmäßig größtem Teil, der »Neuen Hof­burg«, wurde ab 1881 nach Plä­nen von Got­tfried Sem­per als Teil eines unvol­len­det gebliebe­nen »Kaiser­fo­rums«
gebaut; vor ihr erstreckt sich der geräu­mige Helden­platz mit den aus den 1860er Jahren stam­menden Rei­t­er­denkmälern der »Helden« Prinz Eugen und Erzher­zog Karl.

Von der Ringstraßen­seite her gelangt man durch das fünf­bogige Burgtor oder »Helden­tor« auf den Platz, das in großen gold­e­nen Let­tern die wei­thin sicht­bare Auf­schrift »FRANCISCUS I. IMPERATOR AUSTRIAE MDCCCXXIV« (Franz I., Kaiser von Öster­re­ich, 1824) trägt. In den Jahren 1933/34 wurde das Tor zu einem Denkmal für die Gefal­l­enen des Ersten Weltkriegs umgear­beit­et und eine Kryp­ta ein­gerichtet. Damit bekam der Platz einen mil­itärischen und patri­o­tis­chen Akzent, an dessen Stachel sich bis heute regelmäßig »poli­tisch kor­rek­te« Poli­tik­er reiben. Die alljährlich am 8. Mai vom recht­skon­ser­v­a­tiv­en Milieu ver­anstal­teten »Heldenge­denken« wer­den immer wieder zum Poli­tikum skan­dal­isiert und zum Anlaß für »antifaschis­tis­che« Empörung genom­men.

Weit­ere wesentliche Bestandteile der Hof­burg sind die Nation­al­bib­lio­thek mit dem imposan­ten barock­en Prunk­saal, die Win­ter­re­itschule der Spanis­chen Hofre­itschule, die »Stall­burg« des späteren Kaisers Max­i­m­il­ian II. (seit 1558), der Leopol­dinis­che Trakt (1660–66) und die von Rudolf II. in Auf­trage gegebene Amalien­burg im Stil der Spätre­nais­sance (ab 1575). Nicht zu vergessen: der an den Helden­platz anschließende Burggarten, der erst in den zwanziger Jahren der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. Die ersten Baut­en ent­standen bere­its unter den Baben­berg­ern; es han­delte sich um eine ein­fache gotis­che Befes­ti­gungsan­lage, deren Spuren (wie etwa Reste eines Burggrabens) zum Teil heute noch zu sehen sind, ins­beson­dere um den ältesten Teil der Hof­burg herum, den im 18.  Jahrhun­dert so benan­nten »Schweiz­er­hof«, an den die Burgkapelle (1447–49) anschließt.

Den Ein­gang bildet das prachtvolle »Schweiz­er­tor«, das 1552/53 erbaut wurde und von den Far­ben Schwarz, Rot und Gold dominiert wird. Das Adler­wap­pen mit den kleineren Län­der­wap­pen, unter dem auch das Wid­der­fellabze­ichen des »Ordens vom Gold­e­nen Vlies« zu sehen ist, und die lateinis­che Inschrift über dem Tor for­mulieren den uni­ver­salen, sich weit über Europa erstreck­enden Herrschaft­sanspruch der Hab­s­burg­er. Als Erbauer wird Fer­di­nand I. (1503–1564) genan­nt: »König der Römer, Deutsch­lands, Ungar­ns, Böh­mens etc., Infant von Spanien, Erzher­zog von Öster­re­ich, Her­zog von Bur­gund etc.« Im Innen­hof gelangt man zur berühmten Kaiser­lichen Schatzkam­mer, die einzi­gar­tige weltliche und geistliche Wert­ge­gen­stände aus der Samm­lung des Haus­es Hab­s­burg-Lothrin­gen enthält. Das Herzstück der Samm­lung sind die Reichsin­signien des römis­chen Kaisers (žžKarl­stein, Trifels). Von der Reich­skro­ne wurde gesagt, sie sei neben der Dor­nenkro­ne Christi die bedeu­tend­ste Kro­ne der Men­schheits­geschichte gewe­sen. Ein Gemälde von Albrecht Dür­er zeigt sie auf dem Haupte Karls des Großen (Aachen); wahrschein­lich wurde sie aber früh­estens für Otto den Großen (912–973) ange­fer­tigt.

Der let­zte Kaiser, der mit ihr gekrönt wurde, war Franz II., seit 1804 Franz I., Kaiser von Öster­re­ich. Die achteck­ige, reich­lich mit Edel­steinen bestück­te Bügelkro­ne beherbergt eine The­olo­gie der Königswürde: Das an der Front­plat­te aufgesteck­te Kreuz zeigt auf der Rück­seite den gekreuzigten Hei­land, den König, dessen Reich »nicht von dieser Welt« ist; auf vier Emailplat­ten sind David und Salo­mo, die beispiel­haften Könige der bib­lis­chen Über­liefer­ung, zu sehen, sowie Ezechias, dem der Prophet Jesa­ja die Botschaft eines lan­gen Lebens über­bringt, und schließlich Chris­tus als König aller Könige, von dem alle irdis­che Macht ver­liehen wird. Die sakrale Dimen­sion wird durch hochw­er­tige Reliquien unter­mauert: Zu den wertvoll­sten zählen u. a. das mit Perlen und Edel­steinen beset­zte Reich­skreuz (um 1030), das einen ange­blichen Split­ter des Kreuzes von Gol­gatha enthält; die ursprünglich in seinem Quer­arm auf­be­wahrte, sagenum­wobene »Heilige Lanze« (auch bekan­nt als »Speer des Long­i­nus«), in deren Speerblatt Met­all der Kreuznägel ver­ar­beit­et sein soll; sowie die karolingis­che »Stephans­bur­sa«, ein Reliquiar, das der Leg­ende nach die mit dem Blut des heili­gen Stephan getränk­te Erde auf­be­wahrt. Eine erstaunliche Brücke zur Welt des Ori­ents bildet der 1133/34, »im Jahre 528 der Hed­schra«, in Paler­mo ange­fer­tige Krö­nungs­man­tel, eine sarazenisch-nor­man­nis­che, goldbe­stick­te Arbeit aus rot­er Samit-Sei­de mit mor­gen­ländis­chen Motiv­en (zwei spiegel­bildliche Löwen, die ein Kamel schla­gen) und altara­bis­ch­er Inschrift.

Wer aus den abge­dunkel­ten Räu­men des unterirdisch gele­ge­nen Muse­ums wieder ans Tages­licht der Gegen­wart steigt und Geschichte, Sinn und Form sein­er Schätze in sich aufgenom­men hat, wird ein deut­licheres und tief­eres Bild davon gewon­nen haben, was ein­mal »christlich­es Abend­land« in sein­er Ein­heit und Vielfalt bedeutete. »Welch ein geheimnisvoller Zauber webt um diese Reichsin­signien!« schrieb der öster­re­ichis­che Schrif­steller Bruno Brehm. »Welch ein Lied aus vie­len Län­dern, welch ein Schmuck von vie­len Völk­ern, welche Macht von vie­len Kaisern, welch­er Segen viel­er Glauben, welche Träume großer Reiche!«

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Lit­er­atur:

  • Her­mann Fil­litz: Die Insignien und Klein­o­di­en des Heili­gen Römis­chen Reich­es, Wien/München 1954
  • Ernst Kubin: Die Reich­sklein­o­di­en. Ihr tausend­jähriger Weg, Wien/München 1991
  • Georg Schreiber: Die Hof­burg und ihre Bewohn­er, Wien 1993
  • Thomas Tren­kler: Die Hof­burg Wien. Geschichte – Gebäude – Sehenswürdigkeit­en, Wien 2004