Xanten — Nordrhein-Westfalen

Als die nahe der nieder­ländis­chen Gren­ze gele­gene Nieder­rhe­in­stadt Xan­ten 1978 ihr 750. Stadtju­biläum feierte, spielte der bekan­nteste Sohn Xan­tens, Siegfried, nur eine unter­ge­ord­nete Rolle. Man konzen­tri­erte sich statt dessen auf die wirtschaftliche und poli­tis­che Bedeu­tung Xan­tens im Mit­te­lal­ter, die – für das heutige Stadt­bild glück­licher­weise – im 16. Jahrhun­dert rel­a­tiv abrupt endete. Gle­ichzeit­ig betonte man die lange Vorgeschichte der Stadt, die min­destens bis in die römis­che Zeit zurück­ge­ht.

Ende des ersten vorchristlichen Jahrhun­derts wurde südlich des heuti­gen Xan­tens ein römis­ches Mil­itär­lager errichtet. Von hier wie von anderen am Nieder­rhein gele­ge­nen Lagern aus unter­nah­men die Römer Feldzüge gegen die Ger­ma­nen, denen es allerd­ings 70 n. Chr. gelang, das Lager anzu­greifen und zu zer­stören. Ein kleiner­er römis­ch­er Neuauf­bau diente anschließend
in erster Lin­ie der Vertei­di­gung des Gebi­etes. Um 100 n. Chr. errichtete man in Lagernähe eine Sied­lung, die – am Rhein gele­gen – bald zu einem wichti­gen Han­del­splatz wurde. Die Sied­lung hielt sich bis ins 5. Jahrhun­dert und ver­fiel, als das römis­che Reich selb­st seinem Nieder­gang ent­ge­geng­ing.

Die Frage der Sied­lungskon­ti­nu­ität ist für die Fol­gezeit umstrit­ten; jeden­falls gehörte der Xan­ten­er Raum seit dem Ende des 6. Jahrhun­derts zum fränkischen Reich. Das zwis­chen mehreren Stäm­men und anfangs auch ver­schiede­nen Reli­gio­nen gele­gene Gebi­et gewann bald große strate­gis­che Bedeu­tung und wurde seit karolingis­ch­er Zeit zu einem Zen­trum des Nieder­rheins.

Mit Xan­ten wur­den die Heili­gen Vik­tor – dessen Gebeine in dem ihm gewei­ht­en Xan­ten­er Dom auf­be­wahrt wer­den – und Gere­on aus spätrömis­ch­er Zeit in Verbindung gebracht, und auch der Stifter des Prä­mon­stratenseror­dens, Nor­bert von Xan­ten, ver­schaffte der Stadt eine gewisse Pop­u­lar­ität. Das führte u. a. dazu, daß der Ver­fass­er des Nibelun­gen­liedes im 12. Jahrhun­dert in Xan­ten den Königshof Siegfrieds verortete, des Drachen­töters, der – fast unver­wund­bar – durch die Hand des »grim­men Hagen« mit einem Speer in den Rück­en getötet wird. Auch im Falle des etwas früher ent­stande­nen Roland­sliedes glauben manche, mit dem dort erwäh­n­ten Ort »Seinz« kön­nte Xan­ten gemeint sein.

Infolge der Ver­lagerung des Rhein­bettes von der Stadt weg ver­lor Xan­ten seit der Mitte des 16. Jahrhun­derts rasch an Rel­e­vanz. Die Stadt gehörte for­t­an zur rheinisch-katholis­chen Prov­inz, spielte eine – beschei­dene – Rolle Ende des 19. Jahrhun­derts im Kul­turkampf zwis­chen dem (poli­tis­chen) Katholizis­mus und dem von Preußen geschaf­fe­nen »heili­gen evan­ge­lis­chen Reich deutsch­er Nation«, gewann aber niemals die Bedeu­tung zurück, die es im hohen Mit­te­lal­ter gehabt hat­te. Die Wieder­ent­deck­ung des Nibelun­gen­liedes 1755 und die Ger­ma­nen­begeis­terung des 19. Jahrhun­derts rück­ten Xan­ten zwar auch nicht unbe­d­ingt ins Zen­trum der Aufmerk­samkeit, sicherten der »Siegfried­stadt« aber doch ein gewiss­es Inter­esse. Dessen Höhep­unkt liegt in den 1930er Jahren, als die Suche nach his­torischen Spuren des Nibelun­gen­liedes umfan­gre­iche archäol­o­gis­che Aus­grabun­gen in und um Xan­ten ermöglichte und man dadurch genauere Ken­nt­nis von der römis­chen Besied­lung des Gebi­etes gewann. Tat­säch­lich war der »Nibelun­gen­mythos« des NS-Regimes ein wesentlich auf Siegfried bezo­gen­er. Zuvor waren es eher die Fig­ur Hagens von Tron­je und die »Nibelun­gen­treue« in Etzels Halle gewe­sen, die als beson­dere Aus­drücke deutschen Wesens gal­ten. Hitler (žžMünchen: Feld­her­rn­halle) allerd­ings gefiel der strahlende Held Siegfried bess­er, dessen Tod durch einen hin­ter­rücks erfol­gten »Dolch­stoß« auch naht­los­er in die poli­tis­che Pro­pa­gan­da paßte als der hero­is­che Unter­gang der Bur­gun­den.

Die Fokussierung der NS-Führung auf Siegfried wird der Haupt­grund dafür gewe­sen sein, daß Xan­ten sich nach 1945 mit diesem Teil des Stadterbes schw­er­tat. Im Rah­men des ein­gangs erwäh­n­ten 750. Stadtju­biläums wurde die weit­ge­hende Auss­parung Siegfrieds und des Nibelun­gen­liedes allen Ern­stes mit fehlen­den archäol­o­gis­chen Fun­den erk­lärt; in Wirk­lichkeit dürften ide­ol­o­gis­che Gründe die Haup­trol­le gespielt haben. Erst nach­dem seit den 1980er Jahren ein neues Inter­esse am Nibelun­gen­lied bemerk­bar wurde, ist auch Xan­ten wieder dazu überge­gan­gen, sich nicht mehr nur als »Römer- und Dom­stadt«, son­dern eben auch als »Siegfried­stadt« zu präsen­tieren. Dazu hat man u. a. eine Gedenk­tafel an der Xan­ten­er »Kriemhild-Müh­le« ange­bracht; auch einen »Nibelun­gen- Ring« für beson­dere Ver­di­en­ste gibt es mit­tler­weile. 2010 wurde außer­dem ein Siegfried-Muse­um eröffnet, das sich vor allem der Rezep­tion­s­geschichte des Nibelun­gen­liedes wid­met. Auch hier ist man allerd­ings etwas gehemmt durch die Angst, das Muse­um kön­nte zu einem »Wall­fahrt­sort« für »Rechte« wer­den, weshalb man vor­sor­glich mit beson­derem Nach­druck auf den nation­al­sozial­is­tis­chen »Mißbrauch« des Nibelun­gen­liedes hin­weist.

Inwiefern aber Bugs Bun­nys Ring der Niegelun­gen oder der Erotik­streifen ”Siegfried und das sagen­hafte Liebesleben der Nibelun­gen” den Orig­i­nal­stoff weniger mißbrauchen, leuchtet nicht unmit­tel­bar ein. Immer­hin stellt das Muse­um auch eine Rekon­struk­tion von Siegfrieds Schw­ert »Bal­mung« aus und ist bemüht, die ganze Bre­ite des »Nibelun­gen­mythos« abzu­bilden.

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Lit­er­atur:

  • Arndt Kleesiek: »Siegfrieds Edel­sitz«. Der Nibelun­gen-Mythos und die »Siegfried­stadt« Xan­ten im Nation­al­sozial­is­mus, Mün­ster 1998
  • Ingo Runde: Xan­ten im frühen und hohen Mit­te­lal­ter. Sagen­tra­di­tion – Stifts­geschichte – Stadtwer­dung, Köln et al. 2003
  • Hol­ger Schmenk: ”Xan­ten im 19. Jahrhun­dert. Eine rheinis­che Stadt zwis­chen Tra­di­tion und Mod­erne, Köln et al. 2008