Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie — Robert Michels, 1911

Die Arbeit­en von Robert Michels haben fast alle etwas Unfer­tiges an sich. Es gibt bril­lante Ein­fälle, auf­schlußre­iche Ansätze, inter­es­sante Aus­führun­gen, aber zu wenig von einem Rah­men, der für die Schaf­fung eines geschlosse­nen Werkes nötig wäre. Am ger­ing­sten sind diese Män­gel noch in seinem Erstling über die Sozi­olo­gie des Partei­we­sens, einem Buch, dessen erste, 1911 erschienene Fas­sung Zeug­nis eines Gesin­nungswan­dels war, mit dem sich Michels von seinen früheren linksradikalen Anschau­un­gen abkehrte.

Denn diese Sozi­olo­gie des Partei­we­sens war im Grunde nur eine Unter­suchung zur Sozi­olo­gie der SPD, jen­er Partei also, die in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg als demokratis­che und egal­itäre
Bewe­gung schlechthin galt, Trägerin der Ver­heißung ein­er zukün­fti­gen gerecht­en Gesellschaft­sor­d­nung.

Allerd­ings gab es längst Symp­tome, daß die Sozialdemokratie im Hin­blick auf ihre innere Ord­nung den eige­nen Ide­alen je länger, je weniger entsprach. Kennze­ich­nend waren die Bürokratisierung und die Entste­hung eines immer weit­er wach­senden, von den Mit­gliedern unkon­trol­lier­baren Appa­rates, an dessen Spitze eine Führungs­gruppe trat, die kaum gemäß demokratis­ch­er Kri­te­rien bes­timmt wor­den war. Nach Michels ursprünglich­er Inten­tion sollte gegen diese Übel Abhil­fe geschaf­fen wer­den mit jenen Konzepten, wie sie vor allem syn­dikalis­tis­che Kreise erwogen. Aber je länger sich Michels mit dem zen­tralen Prob­lem befaßte, desto geringer erschien ihm die Wahrschein­lichkeit, daß diese oder eine ähn­liche Kur anschla­gen und die Krankheit kuri­eren werde.

Der Haupt­grund für seinen Pes­simis­mus lag darin, daß Michels im Gang der Unter­suchung zu der Ein­sicht gekom­men war, daß die »mech­a­nis­che und tech­nis­che Unmöglichkeit unmit­tel­bar­er Massen­herrschaft« jede wirk­lich auf Gle­ich­heit beruhende Ord­nung unmöglich macht, daß nicht nur die insti­tu­tionelle Ver­fes­ti­gung der Bewe­gung, son­dern auch das Entste­hen ein­er Funk­tion­selite zwangsläu­fig ist, Kon­se­quenz eines »ehernen Geset­zes der Oli­garchisierung«. Michels gab sich keinen Illu­sio­nen hin, was die Kri­te­rien anbe­traf, nach denen die Oli­garchisierung vorg­ing, daß zwar jede Elite sich als Aris­tokratie – also: »Herrschaft der Besten« – betra­chtet, ohne daß dieser Sachver­halt deshalb gegeben oder auch nur wahrschein­lich wäre. Aber, so Michels, die »une­li­m­inier­bare Inkom­pe­tenz der Massen« erlaubt keine Alter­na­tive, son­dern zwingt dazu, daß man sich mit der Real­ität ein­er Sozialord­nung abfind­et, die auf Ungle­ich­heit beruht.

Es wäre indes falsch, wenn man annähme, daß Michels sich daraufhin mit der Deskrip­tion zufriedengegeben oder ein­er zynis­chen Fol­gerung das Wort gere­det hätte. Vielmehr wird man seine spätere poli­tis­che Entwick­lung – vom Über­tritt nach Ital­ien bis zur Parteinahme für den Faschis­mus – als Ver­such zu betra­cht­en haben, für die erkan­nte Prob­lematik eine Lösung zu find­en, die helfen kön­nte, die dro­hende Erstar­rung genau­so zu ver­mei­den wie ein Fes­thal­ten an den demokratis­chen Illu­sio­nen des 19. Jahrhun­derts.

– — –

Zitat:

Die imma­nen­ten Nachteile der Demokratie sind nicht zu verken­nen. Trotz­dem ist als Form die Demokratie das gerin­gere Übel. Das Ide­al wäre eine Aris­tokratie sit­tlich guter und tech­nisch brauch­bar­er Men­schen. Aber wo ist sie zu find­en?

– — –

Aus­gabe:

  • 4. Auflage, Stuttgart: Krön­er 1989

– — –

Lit­er­atur:

  • Wern­er Conze: Nach­wort zur Neuaus­gabe, in: Robert Michels: Zur Sozi­olo­gie des Partei­we­sens… , Nach­druck der 2. Auflage, Stuttgart 1957
  • Robert Michels: Soziale Bewe­gun­gen zwis­chen Dynamik und Erstar­rung. Essays zur Arbeiter‑, Frauen- und nationalen Bewe­gung, hrsg. v. Timm Genett, Berlin 2008
  • Win­fried Röhrich: Robert Michels. Vom sozial­is­tis­chsyn­dikalis­tis­chen zum faschis­tis­chen Cre­do, Berlin 1972