Am 6. Januar 1294 verbriefte der Erzbischof von Magdeburg den Bürgern derselbigen Stadt “das zur Zeit erledigte Schultheißenamt in der Stadt und die daran geknüpfte Einnahme von je 2 Pfennig [und] daß den Erzbischöfen nur das Lehnrecht über dies Amt und dem Domcapitel eine Einnahme von 4 Pfund von dem Gericht auf dem Neuen Markte in der Heermesse zustehen solle.” Der Bischof versicherte weiterhin, “die vom Rathe auf ein ganzes oder halbes Jahr oder auf einen größeren oder kleineren Zeitraum je nach dem Willen der Bürger eingesetzten Schultheißen zu bestätigen [und] die Schultheißen sollen aber die erzbischöflichen Dienstleute und Mannen bei ihren althergebrachten Rechten lassen.”
Damit kauften die Bürger Magdeburgs dem Erzbischof die Ämter des Schultheißen und Burggrafen ab und konnten diese somit selbst besetzen. Die Gerichtsbarkeit lag damit praktisch in städtischer Hand — und es wurde ein Rechtszustand manifestiert, der sich in einer über 150jährigen Entwicklung herausgebildet hatte: das Magdeburger Stadtrecht.
Eine erste schriftliche Quelle für das Vorhandensein einer normierten Gerichtsverfassung und damit eines Vorläufers des Magdeburger Stadtrechts ist ein Privileg des Erzbischofs Wichmann aus dem Jahre 1188. Es sollte die städtischen Gerichtsverfahren vereinfachen. Eine solche Änderung setzte ein bereits existierendes Stadtrecht in Magdeburg voraus. Die wissenschaftliche Forschung geht heute davon aus, daß sich um das Jahr 1130 in Magdeburg städtisches Recht entwickelt habe. Denn bereits um 1160 erhält die Stadt Stendal das Magdeburger Stadtrecht. Bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts entsteht auch das sogenannte Magdeburger Weichbildrecht, eine private Aufzeichnung geltender Rechtsgewohnheiten, das sich bis zum Ende des Jahrhunderts zu einer vulgaten Form entwickelt, der „Weichbildvulgata“. Grundzüge dieser Weichbildvulgata finden sich im Sachsenspiegel wieder.
Der Sachsenspiegel wiederum kann als erstes Prosawerk deutscher Sprache gelten und ist mit Sicherheit eines der ältesten europäischen Rechtsbücher — und untrennbar mit der Geschichte der Stadt Magdeburg und dem Magdeburger Stadtrecht verbunden. Denn der Legende nach verfaßte der sächsische Ritter Eike von Repgow dieses Werk mit dem aus Gewohnheitsrechten, Privilegien und Spruchrechten geformten Kodex der Stadt Magdeburg. Das geschah vermutlich in den Jahren zwischen 1220 und 1230 — auf der Burg Falkenstein bei Magdeburg. Eike von Repgow, dessen Familie sich nach dem kleinen, linkselbisch und nahe Dessau gelegenen Dorf Reppichau benannte, war Schüler der Domschulen in Halberstadt und in Magdeburg und stand später in verschiedenen Diensten, u.a. auch als Rechtsberater mancher Fürsten.
Die fulminante Ausbreitung des Magdeburger Rechts als Grundlage mittelalterlicher Rechtsordnung im ostelbischen Raum und viel mehr noch darüber hinaus im europäischen Osten ging Hand in Hand mit der Ausbreitung des Sachsenspiegels als Quelle des Landrechts in Osteuropa — und begleitete die deutsche Siedlungs- und Kolonisationsbewegung im 12. Jahrhundert. Diese in den europäischen Osten vordringenden deutschen Kolonisten standen in keinem persönlichen Abhängigkeitsverhältnis zu einem Grundherrn und siedelten nach ihrem eigenen Recht, oder wie es im Altprager Rechtsbuch formuliert stand: „Wisset, daß die Deutschen freie Leute sind.“
Das Magdeburger Recht war dabei keine konkrete Kodifikation, sondern ein im Einzelfall sehr variables Konglomerat von Normen und Rechtsvorstellungen, das die frühneuzeitlichen Rechtsordnungen in Mittel- und Osteuropa entscheidend geprägt hat. Parallel zur bäuerlichen Kolonisationsbewegung erfolgten die damit verbundenen Städtegründungen unter Aufsicht der jeweiligen Territorialherren. Das Magdeburger Recht gab dabei die Blaupause für eine im europäischen Osten innovative Lebensform der Städte mit Markt, Stadtfreiheit, Selbstverwaltung und eigener Gerichtsbarkeit, beinhaltete Regelungen zum Kaufmannsrecht, zum Ehegüter- und Erbrecht sowie zum Strafrecht.
Das sächsisch-magdeburgische Recht wurde allgemein als „ius Theutonicum“, als „Deutsches Recht“ angesehen und zur Standardformel für ein modernes Siedel- und Stadtrecht schlechthin. Als Referenzmarke blieb es nicht auf deutsche Siedlungen beschränkt, sondern wurde durch die Landesherren des europäischen Ostens vielen Städten verliehen und somit ein integraler Bestandteil beispielsweise des polnischen oder des litauischen Rechts. Und mit dem Sachsenspiegel gelangte das Magdeburger Stadtrecht sogar bis nach Rußland.
Das Magdeburger Recht gilt daher als eines der bedeutendsten mittelalterlichen Stadtrechte. Der Magdeburger Oberhof mit seinen Schöffen fungierte über Jahrhunderte als führende mittel- und osteuropäische Rechtsinstanz: Von Braunschweig über Stendal, Goslar, Halberstadt, Halle, Leipzig bis Dresden fand das Magdeburger Recht ebenso Verbreitung wie in Prag, Leitmeritz, Warschau oder Posen. Magdeburger Recht wurde gesprochen in Breslau, Kulm, Thorn, Krakau, Vilnius, Olmütz, Lemberg, Minsk, Witebsk, Czernowitz, Ofen (heute Budapest), in Kiew, Nowgorod und sogar östlich des Dnjepr, in Poltawa.
Bürger und Räte dieser Städte erbaten vom Magdeburger Schöffenstuhl Hilfe bei der Rechtsprechung. Wurde bei einer Urteilsfindung keine Einigkeit erzielt, rief man den Schöffenstuhl in Magdeburg um Rechtsauskunft an, begab sich auf den „Rechtszug nach Magdeburg“. Als „Oberhof“ hatte der Magdeburger Schöffenstuhl damit die Interpretationshoheit über das Recht vieler Städte im und außerhalb des Sacrum Romanum Imperium und übte so in der Rechtsausbildung bleibenden Einfluß aus. In einer Weltchronik aus dem Jahre 1493 heißt es: „Die Bürger von Magdeburg haben ein Rechtsbuch, der Sachsenspiegel genannt, das ihnen vom großen Kaiser Karl bestätigt wurde. Daselbsthin auch die nahe gelegenen Völker zur Entscheidung ihrer Sachen ihre Zuflucht haben.“
Auf seinen Stationen nach Osten erfuhr das sächsisch-magdeburgische Recht immer wieder neue Fixierungen und Modifizierungen in Rechtsbüchern verschiedenster Art. Es erstarrte daher nie zu einem Buchrecht. Weit mehr als ein halbes Jahrtausend prägte das Magdeburger Recht die Rechtsordnung in Teilen Deutschlands und in Osteuropa. In Polen verlor das Magdeburger Recht erst im Zuge der Napoleonischen Eroberung seine Gültigkeit, und in Kiew galt das Magdeburger Recht bis 1834. Das lettische Zivilrecht von 1937 war deutlich vom sächsisch-magdeburgischen Recht beeinflußt. Im Herzogtum Anhalt blieb der Sachsenspiegel geltendes Recht, bis am 1. Januar 1900 das Bürgerliche Gesetzbuch in Kraft trat. Und noch im Jahre 1932 stützte das Reichsgericht in Leipzig ein Urteil auf den Sachsenspiegel.
In Kiew erinnert seit dem Jahr 1808 ein Denkmal an die Bewidmung der Stadt mit Magdeburger Recht — und selbst Krakau, die Stadt der polnischen Könige, feierte im Jahr 2007 den 750. Jahrestag von „Kraków europejskie miasto prawa magdeburskiego, 1257–1791“: Krakau als europäische Stadt des Magdeburger Rechts.
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Literatur:
- Friedrich Ebel: Magdeburger Recht, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 6., Stuttgart 1999
- Ernst Eichler/Heiner Lück (Hrsg.): Rechts- und Sprachtransfer in Mittel- und Osteuropa. Sachsenspiegel und Magdeburger Recht, Berlin 2008