Es gärt Mitte des 14. Jahrhunderts in der alten Reichsstadt Köln, die mit ihren 40000 Einwohnern die größte Stadt im Reich ist. Knapp vier Jahrzehnte lang wird der Konflikt dauern, dessen Ergebnis das Ende der Patrizierherrschaft und den Sieg des Kölner Bürgertums bedeutet.
Ursprung der Auseinandersetzungen sind Konflikte zwischen den handwerklichen Zünften und weiten Teilen des Bürgertums auf der einen und wenigen Patrizierfamilien auf der anderen Seite. Mehrfach kommt es in der Hansestadt zu regelrechten kleinen Bürgerkriegen. Mitte der 1360er Jahre sind es die Weber, die als größte Zunft der Stadt gegen das oligarchische System aufbegehren, das sich eine Gruppe einflußreicher Familien über Generationen aufgebaut hat.
Als Unregelmäßigkeiten zu Lasten einzelner Bürger bekannt werden, nutzen die Weber dies zum Ruf nach einer neuen städtischen Verfassung („nova ordinatio“). Zunächst verbuchen sie Erfolge in Form von Zugeständnissen und einer Neukonstituierung des Rates, doch dann wendet sich das Blatt gegen sie. Bei einer Straßenschlacht im Herbst 1371 werden zahlreiche Weber auf offener Straße erschlagen und die alte Ordnung wiederhergestellt. Vorläufig herrscht Ruhe, zudem erbringen die Kölner Patrizier mit der Gründung der Universität 1388 ihre vermutlich größte kulturelle, zweifellos aber nachhaltigste Leistung.
Aber schon wenige Jahre später stellen die Zünfte Forderungen nach mehr Mitsprache, erhalten jedoch nur leere Versprechungen. In der Nacht zum 19. Juni 1396 ziehen Vertreter der Zünfte zu einer Zusammenkunft der Patrizier, die gerade über das weitere Vorgehen gegen die Zünfte beraten. Die Patrizier werden vor Gericht gestellt und zu Geldbußen und Verbannung verurteilt. Damit ist das Ende ihrer offiziellen Herrschaft besiegelt.
In Form des „Verbundbriefs“ erhält die Stadt Köln am 14. September 1396 eine Verfassung, die sich inhaltlich an Vorbildern in Lüttich und Utrecht orientiert. Demnach sind alle Vollbürger Kölns verpflichtet, einer der 22 gewerblich-politischen Genossenschaften, einem „Amt“ oder einer „Gaffel“, anzugehören. „Gaffeln“ nennt man die politischen Korporationen der Kaufleute und Zünfte. Der Ausdruck stammt von einer zweizinkigen Gabel, die Kölner Kaufleute im frühen Mittelalter aus Venedig eingeführt hatten. „Gaffel“ gilt als Symbol gehobener Eßkultur und gibt zugleich den Kölner Tischgemeinschaften den Namen. Aus diesen „Tischbruderschaften“ sind über die Jahre standespolitische Vereinigungen geworden, die nun mit dem gemeinsamen Verbundbrief das politische Heft in die Hand nehmen.
Gemäß Verbundbrief gibt es nur noch einen Stadtrat, der aus 49 Mitgliedern besteht, von denen 36 den Gaffeln und Ämtern zuzuordnen sind; die restlichen 13, das sogenannte „Gebrech“, werden von den 36 Gewählten aus der gesamten Bürgerschaft kooptiert. Die 22 Gaffelgesellschaften verpflichten sich in dem Dokument, einem „ungeschiedenen, ungeteilten Rat“ stets „beiständig, treu und hold“ zu sein. Ihm weisen sie die obrigkeitliche Gewalt zu, die sie gemeinsam garantieren. Da nur Inhaber des Kölner Bürgerrechts wählbar sind, bleibt ein Großteil der Stadtbevölkerung von vornherein ausgeschlossen.
Bei besonders wichtigen Entscheidungen, etwa über Krieg und auswärtige Angelegenheiten, muß der Rat ein Gremium von 44 zusätzlichen Gaffelvertretern (die „Vierundvierziger“) an der Beschlußfassung beteiligen. Oberste Repräsentanten, vom Rat alljährlich gewählt, sind jeweils zwei Bürgermeister. Die Ratsherren unterliegen einem Rotationsgebot: Sie dürfen ihr Amt nur ein Jahr lang innehaben und müssen bis zu einer Wiederwahl zwei, später drei Jahre aussetzen. Der Verbundbrief, dessen Text in einem mittelalterlichen „Kölner“ Deutsch abgefaßt ist, verbietet es ausdrücklich, ein Mandat durch Bestechung, über Freunde oder Verwandte oder gar mit Geschenken anzustreben.
Aber es sind teilweise gerade diese Vorschriften, die in der praktischen Machtausübung neue Mißstände und Konflikte verursachen. Immer wieder können sich erneut oligarchische Tendenzen durchsetzen: Gewesene und amtierende Bürgermeister („Sechsherren“) bilden ein „Kränzchen“, eine mächtige Clique und — wie man damals schon sagte — eine Art „Klüngel“. Dort fallen die wichtigen Entscheidungen. So regieren vom 16. Jahrhundert an Bürgermeister und die einflußreichsten Ratsherren als unbeschränkte Obrigkeit. Mehrfach werden Reformen angemahnt und angekündigt, so im berühmten „Transfixbrief“ von 1513. Doch letztlich bleiben alle Versuche, sämtliche Normen des Verbundbriefes gegen die herrschende Obrigkeit und Vetternwirtschaft durchzusetzen, bis zum Ende der reichsstädtischen Zeit erfolglos.
Die Verfassung jedoch, welche die Gaffeln und Zünfte selbst ausgearbeitet hatten, bleibt bis zur Besetzung Kölns durch die Franzosen 1794, also knapp 400 Jahre, in Kraft. Von den seinerzeit 22 Ausfertigungen des Verbundbriefes — jede Gaffel erhielt ein Original — existieren heute noch zehn, darunter auch jenes Exemplar, das nach dem Einsturz des Kölner Stadtarchivs 2009 unter dessen Trümmern begraben wurde, aber restauriert werden konnte. Daß der Verbundbrief als „kölsches Grundgesetz“ im Bewußtsein der Stadt auch über 600 Jahre später noch präsent ist, zeigt sich im Sommer 2015 auf allzu profane Art, bei der erneut der vielzitierte „kölsche Klüngel“ eine Rolle spielt: Als sich unter den Anhängern des Fußballvereins 1. FC Köln knapp 60 Fangruppierungen auf einen gemeinsamen Verhaltenskodex einigen, nennen sie das gemeinsam verabschiedete Papier in Anlehnung an die Stadtgeschichte ebenfalls „Verbundbrief“.
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Literatur:
- Peter Fuchs: Chronik zur Geschichte der Stadt Köln, Bd. 1, Köln 1993
- Arnd Kluge: Die Zünfte, Stuttgart 2007
- Klaus Militzer: Gaffeln, Ämter, Zünfte. Handwerker und Handel vor 600 Jahren, in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 67 (1996), S.41–59
- Köln in guter Verfassung!? 600 Jahre Verbundbrief. Begleitheft zur gleichnamigen Ausstellung im Kölner Stadtmuseum, Köln 1996