1755 — Das Nibelungenlied wird wiederentdeckt

„Eben gestern habe ich unver­mutete Gele­gen­heit bekom­men, eine kurze Reise ins vorarl­ber­gis­che Hohen-Ems zu machen, woselb­st heute unter anderem die Bib­lio­thek in Augen­schein genom­men, und so glück­lich gewe­sen, daß ich fast unter den ersten Büch­ern, so in die Hände bekom­men, zwei alte einge­bun­dene perga­mentene Codices von altschwäbis­chen Gedicht­en gefun­den, dar­von der einte sehr schön deut­lich geschrieben, einen mit­telmäßig dick­en Quar­t­band aus­macht, und ein aneinan­der­hän­gend weitläuftig Heldengedichte zu enthal­ten scheint, von der bur­gondis­chen Köni­gin oder Prin­cessin Chriemhild, der Titel aber ist Adven­ture von den Gibelunge.“

Mit diesen Worten berichtete der dama­lige Geburtshelfer- und Hebam­men­meis­ter der Stadt Lin­dau am Bodensee, Jacob Her­mann Obere­it, am 30. Juni 1755 dem befre­un­de­ten Schweiz­er Schrift­gelehrten Johann Jakob Bod­mer von seinem schw­er­wiegen­den Fund in der Schloßbib­lio­thek der Reichs­grafen von Hohen­ems. Die heute all­ge­mein als Nibelun­gen­hand­schrift C beze­ich­nete Fas­sung des Mitte bis Ende des 13. Jahrhun­derts in mit­tel­hochdeutsch ver­faßten Bur­gun­denepos wurde in der Folge zusam­men mit den in der Zwis­chen­zeit wiederge­fun­de­nen Hand­schriften A („Hohen­ems-Münch­en­er“) und B (aus dem Codex San­gal­len­sis 857) im Jahr 1784 erst­mals ediert und so einem neuzeitlichen Pub­likum vorgestellt — das for­t­an soge­nan­nte Nibelun­gen­lied bildete den Kern des ersten Bands der von Christoph Hein­rich Myller her­aus­gegebe­nen Sam­lung deutsch­er Gedichte aus dem XII., XIII. und XIV. Jahrhun­dert.

Während König Friedrich II. von Preußen, dem Myller seine Gedicht­samm­lung gewid­met hat­te, dem Her­aus­ge­ber in einem Brief antwortete, daß die hochmit­te­lal­ter­liche Dichtkun­st „nicht einen Schuss Pul­ver werth“ und „elen­des Zeug“ sei, schätzte vor allem Johann Wolf­gang von Goethe das Nibelun­gen­lied als „köstlich­es Werk“ und trat für seine Über­tra­gung von der lyrischen in die epis­che Form ein. Begin­nend mit der Weimar­er Klas­sik entspann sich daraus über den Ver­lauf des 19. Jahrhun­derts eine Vielzahl von Bear­beitun­gen des Nibelun­gen­stoffs mit unter­schiedlich­er Beto­nung der enthal­te­nen mythol­o­gis­chen Aspek­te. Etliche davon grif­f­en, statt auf dem mit­tel­hochdeutschen Grund­stoff zu basieren, auf die isländis­che Völ­sun­ga saga zurück, die gle­ich­falls Ele­mente des Nibelun­gen­lieds enthält — das wohl her­aus­ra­gend­ste Beispiel hier­für stellt bis heute Richard Wag­n­ers Opernzyk­lus Der Ring des Nibelun­gen dar.

Wag­n­er war darin gle­ich­sam weit­ge­hend Schüler des frühro­man­tis­chen Dichters Friedrich de la Motte Fouquè, der 1810 mit Der Held des Nor­dens eine erste Umset­zung des Stoffes in ein drama­tis­ches Langgedicht vorgelegt hat­te. Als the­atralis­che Darstel­lun­gen sind vor allem Friedrich Hebbels Die Nibelun­gen. Ein deutsches Trauer­spiel in drei Abteilun­gen von 1861 sowie das bürg­er­liche Trauer­spiel Brun­hild. Eine Tragödie aus der Nibelun­gen­sage (1857) des Spätro­man­tik­ers Emanuel Geibel her­vorzuheben.

Zusam­men mit dem Erscheinen zahlre­ich­er teils bebildert­er Aus­gaben sorgten diese schrift­stel­lerischen und dich­ter­ischen Bear­beitun­gen des Stoffs eben­so wie seine Platzierung in den gym­nasialen Lehrplä­nen für eine all­ge­meine, deutsch­landweite Bekan­ntheit des Nibelun­gen­lieds wie auch seinen Sta­tus als „deutsches Nationale­pos“. Vor dem Hin­ter­grund der sich abze­ich­nen­den Befreiungskriege gegen Napoleon begann damit auch die mythi­fizierende, nation­al­is­tis­che Aufladung des Epos.

Friedrich Hein­rich von der Hagen, Mit­be­grün­der des wis­senschaftlichen Fachs der Ger­man­is­tik und Über­set­zer des Nibelun­gen­lieds ins Neuhochdeutsche, rühmte etwa schon 1807 den „unver­til­gbaren Deutschen Karak­ter“ von „übermenschliche[r] Tapfer­keit, Kühn­heit und willige[r] Opfer­ung für Ehre, Recht und Pflicht“ sowie den der ger­man­is­chen Mytholo­gie entlehn­ten „Urmythus von Leben, Tod und Wiederge­burt, von Schöp­fung, Unter­gang und Wiederkehr der Zeit­en“, die dem Werk innewohn­ten. Diese Inter­pre­ta­tion ver­fes­tigte sich nach der Reich­seini­gung von 1871 und führte zu For­mulierun­gen wie der „Nibelun­gen­treue“, in der Reich­skan­zler von Bülow 1909 das deutsche Volk an der Seite Öster­re­ich-Ungar­ns sah — aus diesem alle­gorischen Fun­dus sollte sich nach dem schlußendlichen Bünd­nis­fall und Ersten Weltkrieg auch Hin­den­burg bedi­enen, um den Zusam­men­bruch der Heimat­front zu geißeln: „Wie Siegfried unter dem hin­terlisti­gen Speer­wurf des grim­mi­gen Hagen, so stürzte unsere ermat­tete Front; vergebens hat­te sie ver­sucht, aus dem ver­siegen­den Quell der heimatlichen Kraft neues Leben zu trinken.“

Den Gipfelpunkt der pro­pa­gan­dis­tis­chen Instru­men­tal­isierung des Nibelun­gen­lieds bildete jedoch die Rund­funkansprache am 30. Jan­u­ar 1943, in der Her­mann Göring aus dem Ehren­saal des Reich­sluft­fahrt­min­is­teri­ums dem deutschen Volk den bevorste­hen­den Unter­gang der 6. Armee in Stal­in­grad bekan­nt­gab und diesen mit dem End­kampf der Bur­gun­den am Hof der Hun­nen gle­ich­set­zte: “Wir ken­nen ein gewaltiges Helden­lied von einem Kampf ohne­gle­ichen, es heißt “Der Kampf der Nibelun­gen”. Auch sie standen in ein­er Halle voll Feuer und Brand, löscht­en den Durst mit dem eige­nen Blut, aber sie kämpften bis zum let­zten. Ein solch­er Kampf tobt heute dort, und noch in tausend Jahren wird jed­er Deutsche mit heiligem Schauer von diesem Kampf in Ehrfurcht sprechen und sich erin­nern, daß dort trotz allem Deutsch­lands Sieg entsch­ieden wor­den ist.”

Ungeachtet aller poli­tis­chen Aufladung ist unverkennbar, daß die mod­erne Rezep­tion der ger­man­is­chstäm­mi­gen Nibelun­gen­sage von ein­er spez­i­fisch deutschen Sehn­sucht nach mythizis­tis­ch­er Selb­stvergewis­serung getra­gen war und ist. So läßt sich der sagen­hafte Hort als Sym­bol für die erstrebte Ein­heit der deutschen Stämme lesen; Siegfried als strahlen­der Held nimmt als metapho­risch­er Grün­der und Ret­ter des Reichs eine nahezu mes­sian­is­che Größe an, während auf seine Ermor­dung durch Hagen schick­sals­gemäß eine kathar­tis­che, ja, apoka­lyp­tis­che let­zte Schlacht fol­gen muß.

Die besun­genen — ide­al­isierten — Werte der höfis­chen Gesellschaft wie Ehre, Mut und Rit­ter­lichkeit indes stellen exak­te Gegen­bilder zum Erleb­nis der indus­tri­al­isierten Mod­erne dar mit ihrer Ent­frem­dung, Atom­isierung und Ego­manie. So erk­lärt sich die fort­dauernde Bedeu­tung dieses Epos eben­so wie die Fasz­i­na­tion, die bis heute von ihm aus­ge­ht — so ist noch 2011 unter dem Titel Attil und Krimk­ilte eine lange ver­lorene Ver­sion der Nibelun­gen­sage aus Tschuwaschien veröf­fentlicht wor­den, die das Geschehen „aus hun­nis­ch­er Sicht“ schildert. Mehr als ein Viertel­jahrtausend nach dessen Wieder­ent­deck­ung hat Johann Jakob Bod­mer somit recht behal­ten, als er kurz nach Obere­its Fund wer­be­wirk­sam erk­lärte, es han­dele sich bei dem Nibelun­gen­lied um „eine Art von Ilias“ der Deutschen.

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Lit­er­atur:

  • Joachim Fer­nau: Dis­teln für Hagen. Bestand­sauf­nahme der deutschen Seele, München 2009
  • Joachim Hein­zle (Hrsg.): Mythos Nibelun­gen, Stuttgart 2013
  • Joachim Hein­zle: Unsterblich­er Heldenge­sang: Die Nibelun­gen als nationaler Mythos der Deutschen, in: Rein­hard Brandt/Steffen Schmidt (Hrsg.): Mythos und Mytholo­gie, Berlin 2004, S. 185–202