1812 — Die Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm erscheinen

Angestoßen durch Johann Got­tfried Herder begann schon im Sturm und Drang die Beschäf­ti­gung mit der europäis­chen Volk­slit­er­atur (siehe Herders Auszug aus einem Briefwech­sel über Oss­ian und die Lieder alter Völk­er von 1773). Während Gottsched den franzö­sis­chen Klas­sizis­mus zum Maßstab auch der deutschen Lit­er­atur erhoben hat­te, ver­fol­gte Herder einen völ­lig anderen Ansatz, indem er die unter­schiedlichen Sprachen und spez­i­fis­chen Volkscharak­tere in Beziehung zu den orig­inären Aus­drucks­for­men der jew­eili­gen Nation­al­lit­er­a­turen set­zte.

Deren Mate­r­i­al und Geschichte waren aber keineswegs erschlossen. In der Begeis­terung für Oss­ian, den ver­meintlichen „schot­tis­chen Homer“, beklagte Herder daher die bish­er ver­nach­läs­sigte his­torische Sich­tung und Rekon­struk­tion der eige­nen deutschen „Volk­slieder, Prov­inzial­lieder, Bauer­lieder“, die zu sam­meln und aufzuze­ich­nen seien, bevor der „Rest der ältern, der wahren Volksstücke“ ver­lorenge­he, „wie schon solche Schätze unterge­gan­gen sind“.

Herders Anliegen wurde zu einem zen­tralen Bezugspunkt der Roman­tik. Zwis­chen 1805 und 1808 gaben Clemens Brentano und Achim von Arn­im mit Des Knaben Wun­der­horn eine Samm­lung deutsch­er Volk­slieder her­aus und regten die Brüder Jacob und Wil­helm Grimm zur geziel­ten Samm­lung von Volksmärchen an. Nach­dem sie sich zunächst den Märchen, dann den deutschen Sagen und der Mytholo­gie gewid­met hat­ten, rück­ten die Brüder Grimm schließlich die deutsche Sprache selb­st in den Mit­telpunkt ihres Inter­ess­es und nah­men 1838 ihre Arbeit am Deutschen Wörter­buch auf, einem Jahrhun­dert­pro­jekt, dem bis heute umfan­gre­ich­sten Wörter­buch der deutschen Sprache (ab 1852 veröf­fentlicht, 1961 abgeschlossen bei gle­ichzeit­igem Beginn der Nach­bear­beitung, die bis heute läuft). Mit ihrer fünf Jahrzehnte währen­den Forscher­ar­beit begrün­de­ten sie die Ger­man­is­tik.

An deren Beginn stand somit 1812 der erste Band der Kinder- und Haus­märchen, 1815 fol­gte der zweite. Die berühmten Formeln „In den alten Zeit­en, wo das Wün­schen noch geholfen hat“ oder „Es war ein­mal ein alter König“ eröff­nen den Weg in jene wun­der­same Grimm­sche Märchen­welt der Hex­en, Prinzen, Riesen und Jungfrauen, eine imag­inäre, der Gegen­wart entrück­te Welt, tief in den Wäldern gele­gen. Die Geschicht­en und präg­nan­ten Struk­turele­mente von „Hänsel und Gre­tel“, „Aschen­put­tel“, „Rotkäp­pchen“, „Aller­leirauh“, „Snee­wittchen“ oder das „Märchen von einem, der aus­zog, das fürcht­en zu ler­nen“ haben sich sei­ther — auf unter­schiedlichen Ver­mit­tlungswe­gen — in die Vorstel­lungs- und Bilder­welt aller nach­fol­gen­den Gen­er­a­tio­nen einge­graben.

Bei ihrer Samm­lung stützten sich die Grimms, neben weni­gen spät­mit­te­lal­ter­lichen und barock­en Quellen, direkt auf mündliche Über­liefer­un­gen, auf Erzäh­lun­gen aus der eige­nen Fam­i­lie und dem pri­vat­en Umfeld im hes­sis­chen Raum, dann, darüber aus­greifend, auf Erzäh­lun­gen u.a. aus West­falen oder Nord­deutsch­land, abzule­sen an den Beiträ­gen von Jen­ny von Droste-Hül­shoff („Die zer­tanzten Schuhe“) oder Philipp Otto Runge („Von dem Fis­ch­er un syn­er Fru“). „In der Auseinan­der­set­zung um die rechte Wieder­gabe von Volk­spoe­sie“, so Jens Tismar, “nah­men die Brüder Grimm gegenüber ihren Fre­un­den Arn­im und Brentano einen dezi­diert philol­o­gis­chen Stand­punkt ein. Sie woll­ten das mündlich Tradierte getreu, ohne Schnörkel und Zusätze aufze­ich­nen, authen­tisch bis in Eigen­tüm­lichkeit­en des Dialek­ts hinein. Vor allem Jacob Grimm hat unver­fälschte Wieder­gabe gefordert. Denn für ihn ist das Volksmärchen Beispiel für das “Sichvon­selb­st­machen” der “Natur­poe­sie”, die aus einem Ganzen her­vor­tritt.”

Freilich war die Quel­len­lage begren­zt, und die schriftliche Aufze­ich­nung selb­st ging bere­its mit eigen­er For­mge­bung und Redigierung ein­her, zumal spätere Über­ar­beitun­gen die Akzente hin zur leichteren Lek­türe ver­schoben. Da sich die Märchen also nicht „von selb­st gemacht“ haben, beste­ht die lit­er­aturgeschichtliche Leis­tung der Brüder Grimm neben der Samm­lung, dem Zusam­men­tra­gen des Mate­ri­als, in der gestal­tenden, stil­isieren­den Auf­bere­itung der ihnen zugänglichen Über­liefer­ung.

Die unge­heure Pop­u­lar­ität der Kinder- und Haus­märchen läßt sich durch die faszinieren­den Geschicht­en selb­st, aber auch mit nationalen Rezep­tions­be­din­gun­gen erk­lären. Die ersten Aus­gaben fie­len in die Zeit der Befreiungskriege gegen Napoleon (1813–15); im sich anschließen­den Nation­al­staats­bil­dung­sprozeß wuchs den Märchen gewis­ser­maßen der Sta­tus als Doku­men­ta­tion eigen­ständi­ger Volk­slit­er­atur zu. Um die Jahrhun­der­twende boten einzelne Märchen Vor­la­gen für anspruchsvolle Opern­fas­sun­gen von Engel­bert Humperdinck (Hänsel und Gre­tel von 1893) oder Siegfried Wag­n­er (Der Bären­häuter von 1899). Die unzäh­li­gen filmis­chen Adap­tio­nen umfassen vom Stumm­film bis zur Fernsehserie alle For­men und Niveaus.

Daß einzelne Stoffe, wie Jens Tismar schreibt, auf franzö­sis­che Vor­bilder zurück­ge­führt wer­den kön­nen oder aus anderen Quellen schöpften, hat die Wahrnehmung und Wirkung als spez­i­fisch deutsche Märchen­samm­lung nicht geschmälert. Hinge­gen zeit­igte die Flut von Neu‑, Auswahl- und Jugen­daus­gaben in der zweit­en Hälfte des 20. Jahrhun­derts einen triv­i­al­isieren­den Effekt, der die poet­is­che Vielschichtigkeit der Texte nicht immer her­vortreten läßt.

– — –

Lit­er­atur:

  • Kinder- und Haus­märchen gesam­melt durch die Brüder Grimm, München 1993
  • Herders Werke in fünf Bän­den, Weimar 1963
  • Jens Tismar: Volks- und Kun­st­märchen, Volks- und Kun­stlieder, in: Horst Albert Glaser (Hrsg.): Deutsche Lit­er­atur. Eine Sozialgeschichte, Bd. 5, Rein­bek bei Ham­burg 1980, S.196–215