1918 — Das allgemeine Wahlrecht für Frauen wird beschlossen

Das all­ge­meine Wahlrecht für Frauen wurde in Deutsch­land am 30. Novem­ber 1918 geset­zlich fix­iert. Knapp drei Wochen zuvor, am 12. Novem­ber 1918, hat­te die pro­vi­sorisch einge­set­zte Regierung in ihrem „Aufruf des Rates der Volks­beauf­tragten an das deutsche Volk“ das Wahlrecht auch für alle „min­destens 20 Jahre alten weib­lichen Per­so­n­en“ verkün­det.

Die „späte Ein­führung“ des Frauen­wahlrechts in Deutsch­land schlage noch immer Wellen, heißt es heute. Durch diese „his­torische Verzögerung“ („Frauen­forscherin“ Gisela Notz in der taz) seien Frauen bis heute nicht so selb­stver­ständlich wie Män­ner an poli­tis­chen Macht­struk­turen beteiligt. Auf das Dik­tum der „his­torischen Verzögerung“ wird auch jen­seits dezi­diert link­er und fem­i­nis­tis­ch­er Äußerungs­for­men zurück­ge­grif­f­en. Deshalb haben die großen Parteien in Deutsch­land in bezug auf das pas­sive Wahlrecht als eine Art der „pos­i­tiv­en Diskri­m­inierung“ Frauen­quoten oder ‑quoren einge­führt. Bei den Grü­nen und Linken müssen 50 Prozent aller Ämter mit Frauen beset­zt sein, bei der CSU sind es 40 Prozent; FDP und AfD sehen solche Reg­u­la­to­rien derzeit nicht vor.

Die Rede von ein­er hierzu­lande „ver­späteten“ Ein­führung des Wahlrechts für Frauen sollte man allerd­ings in Beziehun­gen set­zen: Erstens wurde im Deutschen Reich erst 1871 das Wahlrecht für jed­er­mann (im Alter von 26 und darüber) einge­führt (in den Bundesstaat­en gal­ten teil­weise weit­er­hin ver­schiedene For­men des Plu­ral­wahlrechts). Zweit­ens: 1906 gewährte mit Finn­land das erste europäis­che Land (damals: rus­sis­ches Großfürsten­tum) Frauen das Wahlrecht. Allein Aus­tralien war vier Jahre zuvor am Zug. Nor­we­gen und Däne­mark fol­gten ihrem östlichen Nach­barn 1913 und 1915. 1920 öffneten die USA das Wahlrecht auf allen Ebe­nen, 1928 Großbri­tan­nien, die Türkei 1934, das fortschrit­tliche Frankre­ich erst 1945. Die Schweiz (wo einige Kan­tone erst 1990 Frauen zur Urne gehen ließen) fol­gte wie Por­tu­gal und Spanien in den siebziger Jahren. Liecht­en­stein ermöglichte 1984 das Frauen­wahlrecht, nach­dem zuvor in zwei Volksab­stim­mungen die Ein­führung abgelehnt wor­den war. Von „his­torisch­er Verzögerung“ kann für Deutsch­land kaum die Rede sein.

Vor­bild der Stre­i­t­erin­nen für das Frauen­wahlrecht war die franzö­sis­che Rev­o­lu­tionärin Olympe de Gouges, die 1791 ihre Dèc­la­ra­tion des droits de la Femme et de la Citoyenne ver­faßte — und auf dem Schafott endete. Als erste deutsche Stre­i­t­erin für das Frauen­wahlrecht gilt die West­fälin Mathilde Franziska Anneke, die 1988 von der Deutschen Bun­de­post mit ein­er 2,40-DM-Briefmarke geehrt wurde. Die riesen­hafte Frau kämpfte, als „Flinten­weib“ verspot­tet, in der 1848er-Rev­o­lu­tion und emi­gri­erte in die USA, wo sie eine früh­fem­i­nis­tis­che Zeitung in deutsch­er Sprache betreute. Im Vor­märz hat­te sie ihre wahlrechts­fordernde Schrift Das Weib im Con­flict mit den socialen Ver­hält­nis­sen veröf­fentlicht. Zwei Jahrzehnte nach Anneke geri­et die ultra­pro­gres­sive Berlin­er Frauen­recht­lerin Hed­wig Dohm in Kon­flikt mit der bürg­er­lichen Frauen­be­we­gung, die den „prak­tis­chen Wert“ solch­er Wahlrechts­forderun­gen bezweifelte. Jene beförderte das, was heute „Dif­ferenz-Fem­i­nis­mus“ genan­nt wird, Dohm hinge­gen stand auf seit­en der Uni­ver­sal­istin­nen.

1876 veröf­fentlichte sie (die spätere Groß­mut­ter von Katia Mann) ihre Schrift Der Frauen Natur und Recht. Zur Frauen­frage. Zwei Abhand­lun­gen über Eigen­schaften und Stimm­recht der Frauen: “Mehr Stolz, ihr Frauen! Der Stolze kann miß­fall­en, aber man ver­achtet ihn nicht. Nur auf den Nack­en, der sich beugt, tritt der Fuß des ver­meintlichen Her­rn!” Das Gros der maßge­blichen Dichter und Denker des 19. Jahrhun­derts stand frauen­recht­lerischen Bestre­bun­gen skep­tisch gegenüber. Richard Wag­n­er bekan­nte, die Ortrud in seinem Lohen­grin auf diese Fra­gen gemünzt zu haben: “Ihr Wesen ist Poli­tik. Ein poli­tis­ch­er Mann ist wider­lich; ein poli­tis­ches Weib aber grauen­haft: diese Grauen­haftigkeit hat­te ich darzustellen.”

Johann Got­tlieb Fichte pos­tulierte, Frauen mögen ihren Gat­ten „als Ver­wal­ter ihrer Rechte und natür­lichen Repräsen­tan­ten akzep­tieren“. Durch Marx und Engels änderte sich die intellek­tuelle Wet­ter­lage. 1891 nahm mit der SPD die erste Partei die Forderung nach einem all­ge­meinen Stimm­recht „ohne Unter­schied des Geschlechts für alle Wahlen und Abstim­mungen“ in ihr Pro­gramm auf. Als Ver­stärk­erin diente wiederum zwei Jahrzehnte später die (damals noch) SPD-Frau Clara Zetkin, die 1910 einen Frauen­tag forderte, der „im Ein­vernehmen mit den klassen­be­wußten poli­tis­chen und gew­erkschaftlichen Organ­i­sa­tio­nen des Pro­le­tari­ats“ der Agi­ta­tion für das Frauen­wahlrecht dienen sollte.

Am 19. Jan­u­ar 1919 durften Frauen erst­mals wählen — knapp 18 Mil­lio­nen tat­en es, demge­genüber nur 15 Mil­lio­nen Män­ner. Viele waren gefall­en oder lagen ver­wun­det in Lazaret­ten. 1919 wählten 82 Prozent der Wahlberechtigten, prozen­tu­al gle­ich viel Frauen wie Män­ner. Dabei sprachen die Frauen deut­lich stärk­er dem bürg­er­lichen Spek­trum zu, also der Seite, die gegen das Frauen­wahlrecht war. In den fol­gen­den Zeit­en nahm die Frauen­wahllust ab.

In den medi­al darg­ere­icht­en Schaubildern und Graphiken zur Ver­an­schaulichung des Wahlver­hal­tens wird meis­tens nach Alter, sozialem Sta­tus und vorheriger Parteipräferenz unter­schieden, sel­tener nach Geschlecht. Ein his­torisch­er Überblick zeigt, daß Frauen durchge­hend sel­tener von ihrem Wahlrecht Gebrauch macht­en als Män­ner. In der Weimar­er Zeit betrug die Diskrepanz im Schnitt etwa zehn Prozent, 1953 lag der Unter­schied bei drei Prozent, heute bei fast allen Wahlen bei unter einem Prozent.

Mit­te­lalte Frauen (unter 50 Jahren) gehen häu­figer zur Wahl als mit­te­lalte Män­ner. Frauen zeigen grund­sät­zlich im Schnitt stets die Nei­gung, etablierte Parteien zu wählen. In der Weimar­er Repub­lik wählten deut­lich mehr Män­ner als Frauen die NSDAP und überdeut­lich mehr Män­ner die KPD (etwa 1928: 10,2Prozent Män­ner, 6,6Prozent Frauen). Im nation­al­sozial­is­tis­chen Jahrzwölft (und zuvor) war es ein bekan­ntes Phänomen, daß die NSDAP in protes­tantis­chen Gegen­den deut­lich mehr Zus­pruch erhielt als in katholis­chen. Dabei wählten dort (etwa in Bre­men und Magde­burg) mehr Frauen als Män­ner die Nation­al­sozial­is­ten. Das pas­sive Wahlrecht wurde Frauen im Nation­al­sozial­is­mus ent­zo­gen.

Heute ist die Man­n/Frau-Diskrepanz am deut­lich­sten bei den Stim­men für die CDU zu sehen, hier ist die Überzahl an Frauen­stim­men am höch­sten. Der Einzug der AfD in den Bun­destag wurde 2013 von weib­lichen Wäh­lern ver­hin­dert. 7,1 (Ost) und 5,5 Prozent (West) Män­ner­stim­men standen 4,7 und 3,4 Prozent Frauen­stim­men gegenüber. Ein ver­gle­ich­bares, noch drastis­cheres Bild zeigt sich im Nach­bar­land Öster­re­ich — bei den Nation­al­ratswahlen 2013 wählten 26 Prozent der Bürg­er und nur 16Prozent der Bürg­erin­nen die kon­ser­v­a­tive FPÖ.

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Lit­er­atur:

  • Elke Fern­er (Hrsg.): 90 Jahre Frauen­wahlrecht. Eine Doku­men­ta­tion, Berlin 2008
  • Ute Moli­tor: Wählen Frauen anders? Zur Sozi­olo­gie eines frauen­spez­i­fis­chen poli­tis­chen Ver­hal­tens in der Bun­desre­pub­lik Deutsch­land, Baden-Baden 1992
  • Alice Schwarz­er: Damen­wahl. Vom Kampf um das Frauen­wahlrecht bis zur ersten Kan­z­lerin, Köln 2008