1935 — Die Nürnberger Gesetze werden vom Reichstag angenommen

Auf dem „Reichsparteitag des Friedens“, den die deutsche Staatspartei NSDAP in Nürn­berg abhielt, wur­den drei neue Geset­ze des Deutschen Reich­es verkün­det und unmit­tel­bar vom Reich­stag, in dem seit Novem­ber 1933 nur noch NSDAP-Mit­glieder saßen, angenom­men. Ein Reichs­flaggenge­setz erk­lärte Schwarz-Weiß-Rot zu den Nation­al­far­ben und die Hak­enkreuzflagge zum Staatssym­bol. Ein Reichs­bürg­erge­setz führte neben der bish­er beste­hen­den Staat­sange­hörigkeit die Reichs­bürg­er­schaft als neuen Sta­tus ein, der allein die vollen poli­tis­chen Rechte ver­lei­hen kon­nte. Schließlich wurde ein Gesetz zum „Schutz von deutschem Blut und deutsch­er Ehre“ erlassen.

In der Kom­bi­na­tion hoben diese drei Verord­nun­gen den NS-Staat auf eine völ­lig neue Ebene. Bis dahin kon­nte die Rechts- und Leben­sprax­is in Deutsch­land noch in den meis­ten Fällen als Fort­führung gewöhn­lich­er deutsch­er Tra­di­tio­nen unter autoritär-dik­ta­torischen Vorze­ichen gel­ten. Dazu gehörte u.a., daß man sich auch zur Flagge des kaiser­lichen Deutsch­land bekan­nte, die von der neuen Staats­führung 1933 am „Tag von Pots­dam“ als gle­ich­berechtigt zur Hak­enkreuz­fahne präsen­tiert wor­den war. Dazu gehörte auch die Kon­ti­nu­ität bei der Staats­bürg­er­schaft. Sie war zwar poli­tis­chen Geg­n­ern und Exi­lanten vielfach aberkan­nt wor­den, doch wurde dies im Rah­men von Einzelfal­l­entschei­dun­gen gehand­habt.

Auch die Entrech­tung der in Deutsch­land leben­den Juden hat­te sich vor dem Sep­tem­ber 1935 noch kaum bis zu jenen grund­sät­zlichen Mut­maßun­gen über deutsch-jüdis­che Blut­sun­ter­schiede vor­ge­tastet, die nun zur geset­zlichen All­ge­me­in­grund­lage wur­den. Eine verbindliche Def­i­n­i­tion dieser Unter­schiede enthiel­ten die Nürn­berg­er Geset­ze jedoch nicht, und es sollte bis 1945 auch keine fol­gen. Die biol­o­gis­che Zuge­hörigkeit zum Juden­tum wurde im Zweifel aus dem früheren Reli­gions­beken­nt­nis der Vor­fahren abgeleit­et.

Statt ein­er stich­halti­gen Def­i­n­i­tion regierte kün­ftig die religiöse Mys­tik. Man wird nicht fehlge­hen, hier eine Art Ver­ball­hor­nung bib­lis­ch­er Über­liefer­ung durch den inneren Kreis der Nation­al­sozial­is­ten zu sehen. In seinen Gesprächen mit Hitler hat­te Diet­rich Eckart diese Hal­tung in den frühen 1920er Jahren doku­men­tiert. Man faßte die Geschichte dem­nach als Beleg dafür auf, daß im Juden­tum seit ewiger Zeit eine Rassenpflege betrieben werde. Beschrieben wird in der Bibel in der Tat u.a., wie der Prophet Esra über die Zustände in Israel entset­zt ist, die Nachkom­men jüdisch-nichtjüdis­ch­er Mis­chehen aus Jerusalem ver­ban­nt und nur wenige nach sorgfältiger per­sön­lich­er Auswahl wieder hinein­läßt.

Der Ver­such, dies durch die Nürn­berg­er Geset­ze für Deutsch­land zu kopieren, indem dort „Eheschließun­gen zwis­chen Juden und Staat­sange­höri­gen deutschen oder artver­wandten Blutes“ ver­boten wur­den, geri­et zu ein­er wider­sprüch­lichen Anmaßung. Trotz etlich­er NS-Gutacht­en über „deutsche Rassen“ war let­ztlich ein­deutig, daß so etwas nicht greif­bar war. Der neueinge­führte „Ari­er­nach­weis“, der allein zum Erhalt der in Nürn­berg 1935 geschaf­fe­nen Reichs­bürg­er­schaft berechtigte, enthielt schließlich im Kleinge­druck­ten das Eingeständ­nis, es seien alle europäis­chen Völk­er als arisch zu betra­cht­en. Das galt aus­drück­lich für die roman­is­chen so gut wie für die ger­man­is­chen und die slaw­is­chen Natio­nen. Als nichtarisch gal­ten dem­nach aus­drück­lich nur Nich­teu­ropäer, also vor allem Afrikan­er, Indi­an­er, Asi­at­en und — als wirk­liche Ziel­gruppe dieses ganzen Aufwands — Juden.

Leopold Amery, vielfach­er britis­ch­er Min­is­ter, selb­st jüdis­ch­er Abstam­mung und über Jahrzehnte eine der großen Fig­uren der britis­chen Poli­tik, set­zte sich 1934/35 inten­siv mit den Entwick­lun­gen der NS-Ide­olo­gie auseinan­der. Dazu gehörte die aus­giebige Lek­türe von Alfred Rosen­bergs Mythos des 20. Jahrhun­derts und von Hitlers Mein Kampf, das er in einem Zug durch­las und intellek­tuell beein­druck­end fand, allerd­ings „unge­sund, was Juden und Sozial­is­ten ange­ht“.

Als vor­läu­figer Abschluß dieser Analyse fol­gte ein län­geres Gespräch mit Hitler per­sön­lich, kurz vor dem Nürn­berg­er Parteitag von 1935. Amery rech­nete schließlich mit ein­er Art von Reli­gion­s­grün­dung in Deutsch­land, deren let­zte Aus­prä­gung noch offen sei. Allerd­ings sei bemerkenswert, daß deren aktuelle Form, wie vor allem Rosen­berg sie präsen­tiere, „bei all seinem Haß auf Juden, seinem Ver­such, das Alte Tes­ta­ment völ­lig zu eli­m­inieren und zusät­zlich den größten Teil des Neuen Tes­ta­ments ein­schließlich Paulus, tat­säch­lich selb­st nur eine Neuau­flage der eng­stirnig­sten völkischen Reli­gion der Juden in ihren frühen Tagen ist“.

Diesem merk­würdi­gen intellek­tuellen Abhängigkeitsver­hält­nis ver­liehen die Nürn­berg­er Geset­ze auch dadurch Aus­druck, daß Juden darin als einziger Per­so­n­en­gruppe das Führen der neuen „deutschen Far­ben“ und das Hissen der Hak­enkreuzflagge aus­drück­lich ver­boten wur­den. Ander­er­seits wurde ihnen als eben­falls einziger Per­so­n­en­gruppe das Führen nicht näher definiert­er „jüdis­ch­er Far­ben“ aus­drück­lich ges­tat­tet und dies unter staatlichen Schutz gestellt. Diese Mis­chung aus Vor­bild­charak­ter des Juden­tums und Tod­feind­schaft ihm gegenüber blieb dem Nation­al­sozial­is­mus bis ins Früh­jahr 1945 erhal­ten.

In der deutschen Geschichte nehmen die Nürn­berg­er Geset­ze als Ereig­nis einen außergewöhn­lichen Platz ein. Sie stell­ten den Ver­such dar, mit der christlichen Tra­di­tion Deutsch­lands zu brechen und einen neuen, religiös-nationalen Mythos zu schaf­fen, der den Glauben mit der deutschen Iden­tität eins wer­den lassen sollte.

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Lit­er­atur:

  • Uwe Diet­rich Adam: Juden­poli­tik im Drit­ten Reich, Düs­sel­dorf 2003
  • Lothar Gruch­mann: „Blutschutzge­setz“ und Jus­tiz. Zur Entste­hung und Auswirkung des Nürn­berg­er Geset­zes vom 15. Sep­tem­ber 1935, in: Viertel­jahrshefte für Zeit­geschichte 31 (1983), S. 418–442
  • Lorenz Jäger: Das Hak­enkreuz — Zeichen im Welt­bürg­erkrieg. Eine Kul­turgeschichte, Wien 2006