1953 — Der 17. Juni wird zum Fanal nationaler Selbstbehauptung

Ein warmer, son­nen­ver­wöh­n­ter Mittwoch. Ost-Berlin erwacht, schein­bar wie immer, und den­noch wird sich dieser Tag in die Geschichte ein­schreiben, denn, wenn auch nur für einen Augen­blick, es bricht der Wille nationaler Selb­st­be­haup­tung, nach Jahren ein­er durch Siegermächte bes­timmten Poli­tik, in einem Teil des beset­zten Deutsch­lands durch.

An seinem Beginn stand die „Ver­schär­fung des Klassenkampfes“ als Dok­trin der 2. SED-Parteikon­ferenz im Juli 1952, die, nach ersten Jahren der pseu­do­demokratis­chen Umman­telung, nun offen den radikalen „Auf­bau des Sozial­is­mus“ unter der „Dik­tatur des Pro­le­tari­ats“ und sein­er führen­den Partei, der SED, forderte. Im „Geiste Stal­ins“ sollte durch Erhöhun­gen der Arbeit­snor­men, der soge­nan­nten Stachanow-Bewe­gung fol­gend, ein ver­schärfter Kurs der Pro­duk­tion­sleis­tun­gen auf allen Gebi­eten erfol­gen.

Wen­ngle­ich die SED-Führung nach dem einige Monate später einge­trete­nen Tode Stal­ins „in der Ver­gan­gen­heit eine Rei­he von Fehlern“ einge­s­tand, Preis­er­höhun­gen zurück­nahm, die Über­prü­fung von Urteilen poli­tisch Inhaftiert­er in Aus­sicht stellte und die Rück­gabe von requiri­ertem Eigen­tum an Bauern und Gewer­be­treibende ver­sprach, hielt sie den­noch an der „plan­mäßi­gen Errich­tung des Sozial­is­mus“ und den damit ver­bun­de­nen Arbeit­snor­men fest, wie das Polit­büro der SED am 9. Juni 1953 ver­laut­barte. Unmut machte sich bre­it und das nicht nur in der selb­ster­nan­nten DDR-Haupt­stadt.

Am Mor­gen des 16. Juni 1953 zeigten sich erste Fol­gen aufges­taut­en Unmuts. Trotz der Beibehal­tung erhöhter Arbeit­snor­men und beste­hen­der Lohnkürzun­gen kon­nten die Arbeit­er des Kranken­haus­neubaus in Berlin-Friedrichshain noch tags zuvor durch Gew­erkschafts­funk­tionäre des staatlichen FDGB von ein­er Arbeit­snieder­legung abge­hal­ten wer­den. An diesem Tag jedoch sol­i­darisierten sich Arbeit­er der Nach­bar­baustellen am Renom­mier­ob­jekt der Stali­nallee mit ihren Kol­le­gen. Von bei­den Baustellen aus formierte sich daraufhin ein klein­er Protestzug, der sich auf dem Weg zum „Haus der Gew­erkschaften“ und weit­er zum Regierungssitz in der Leipziger Straße schnell auf ca. 10000 Demon­stran­ten ver­größerte. Noch bes­timmten Losun­gen zur Rück­nahme von Normer­höhun­gen und Lohnkürzun­gen den Tenor, doch schon bald ent­standen Forderun­gen nach freien Wahlen und dem Ende der SED-Herrschaft.

Bere­its in den Abend­stun­den des 15. Juni hat­te die „Rund­funkanstalt im amerikanis­chen Sek­tor“, kurz RIAS, erste Hin­weise auf die sich zus­pitzende Sit­u­a­tion in Ost-Berlin erhal­ten und weit­ergegeben. Am Mor­gen des 16. Juni ver­bre­it­ete der Sender, in Rück­sprache mit der amerikanis­chen Mil­itärver­wal­tung, die Mel­dung von ersten Ausstän­den auf Baustellen Ost-Berlins, die von anderen west­deutschen Nachricht­ensendern über­nom­men wurde und sich dadurch auch in allen Bezirken der DDR ver­bre­it­ete.

Am Abend des 16. Juni ver­las der RIAS eine Res­o­lu­tion ein­er „Del­e­ga­tion der Bauar­beit­er, von denen die Aktion aus­ge­gan­gen war“, die die Rück­nahme der Arbeit­snor­men, die Senkung der Leben­shal­tungskosten und die Forderung nach freien und geheimen Wahlen in der DDR zum Inhalt hat­te. Dieser Forderungskat­a­log wurde in den Nachricht­ensendun­gen des RIAS stündlich wieder­holt. „Der Rias war zum Katalysator des Auf­s­tandes gewor­den. Ohne den Rias hätte es den Auf­s­tand so nicht gegeben“, resümierte Egon Bahr, sein­erzeit deutsch­er Chefredak­teur des Senders.

Am Mor­gen des 17. Juni 1953 sendete der RIAS im Rah­men der Tages­nachricht­en den Aufruf, sich ab sieben Uhr an ein­er Großdemon­stra­tion auf dem Straußberg­er Platz zu beteili­gen, und unter­mauerte ihn mit Sol­i­dar­ität­serk­lärun­gen aus West-Berlin und der Bun­desre­pub­lik sowie Aufrufen Ost­ber­lin­er Betrieb­s­grup­pen zur Beteili­gung an der Protestkundge­bung. Zur sel­ben Zeit fan­den im Berlin­er Raum erhöhte Trup­pen­be­we­gun­gen statt. Sow­jetis­che Panz­er roll­ten auf Berlin zu, amerikanis­che und west­al­li­ierte Stre­itkräfte standen in erhöhter Alarm­bere­itschaft.

Ab sechs Uhr, der Streikaufruf hat­te sich längst herumge­sprochen, ver­sam­melten sich Tausende Demon­stran­ten auf dem Straußberg­er Platz. Eine Stunde später waren es ca. 40000 Men­schen, darunter viele Bauar­beit­er. Sper­rket­ten der Ost­ber­lin­er Volk­spolizei spren­gend, wälzte sich dieser gewaltige Men­schen­zug zum Regierungssitz und Alexan­der­platz. Sein Ruf: „Berlin­er, rei­ht euch ein, wir wollen freie Men­schen sein!“ In den Außen­bezirken Ost-Berlins formierten sich weit­ere Demon­stra­tio­nen. Immer mehr Betriebe legten ihre Arbeit nieder. Im Berlin­er Bezirk Mitte von 4000 Beschäftigten 3300, im Friedrichshain 10000 Mitar­beit­er in zehn Werken, in 13 Köpenick­er Betrieben 24000 Men­schen. Aus dem Stahl- und Walzw­erk Hen­nigs­dorf trat­en 12000 Werk­tätige den Marsch durch West-Berlin in Rich­tung Zen­trum an.

Gegen zehn Uhr hat­ten die Demon­stran­ten am Pots­damer Platz alle kom­mu­nis­tis­chen Insignien der Macht zer­stört, aber auch Kioske und Barack­en in Brand geset­zt. Die Sit­u­a­tion eskalierte, als die Polizei­wache im teil­sanierten HO-Waren­haus „Colum­bushaus“ gestürmt wurde und das Kaufhaus in Flam­men aufging. Vom Sturm der Menge über­rascht, zogen es einige Volk­spolizis­ten schließlich vor, sich durch Flucht in West­ber­lin­er Gewahrsam vor der aufge­bracht­en Menge zu schützen. Zugle­ich zeigten sich in der Leipziger Straße und auf dem Straußberg­er Platz einige tausend doch recht neu in Handw­erk­erk­luft eingek­lei­dete Demon­stran­ten aus West­ber­lin­er Stadt­bezirken, deren Anwe­sen­heit später der SED-Regierung als Beleg für die „Tätigkeit aus­ländis­ch­er Agen­ten“ galt.

Um elf Uhr wurde, unter dem Jubel der Demon­stran­ten, die rote Fahne vom Bran­den­burg­er Tor herun­terge­holt. Die kom­mu­nis­tis­che Herrschaft schien nun auch an der Sek­toren­gren­ze gebrochen und damit die weit­erge­hen­den Forderun­gen nach „freien Wahlen“, „Abzug der Russen“ und dem Ende der SED-Regierung in greif­bar­er Nähe. Zehn­tausende ver­sam­melten sich inzwis­chen am Regierungsvier­tel und forderten nun das Ende kom­mu­nis­tis­ch­er Herrschaft.

Sow­jetis­che Panz­er und Trup­pen der Kasernierten Volk­spolizei (KVP) began­nen gegen Mit­tag mit bru­taler Gewalt die Demon­stra­tionszüge aufzulösen. Ein erster Tot­er war zu bekla­gen, als ein rus­sis­ch­er Panz­er Unter den Lin­den absichtsvoll unge­bremst in eine Men­schen­menge fuhr. Unter dem Ein­satz von Schußwaf­fen began­nen die bewaffneten Kräfte die Umge­bung des Regierungssitzes zu räu­men. Zahlre­iche Men­schen wur­den dabei in die West­sek­toren abge­drängt. Um 13 Uhr wurde durch den Befehl des sow­jetis­chen Mil­itärkom­man­dan­ten der Aus­nah­mezu­s­tand über Ost-Berlin ver­hängt.

Auch an weit­eren über 500 Orten in den Bezirken und Kreisen der DDR kam es am 17. Juni zu Streiks und Kundge­bun­gen gegen die SED-Herrschaft. Schw­er­punk­te bilde­ten hier­bei die indus­triellen Bal­lungszen­tren Leipzig, Bor­na, Chem­nitz, Dres­den, Riesa, Frankfurt/Oder, Dessau, Jena, Wit­ten­berg oder Magde­burg. Dabei kam es auch dort zu viel­er­lei Gewal­tak­ten und bluti­gen Zusam­men­stößen.

In Gör­litz ver­band sich hier­bei zugle­ich die Per­spek­tivlosigkeit viel­er Ver­trieben­er aus den schle­sis­chen Ost­ge­bi­eten, die, ihrer Heimat beraubt und noch unter den Erfahrun­gen der pan­pol­nis­chen Vertrei­bung­sexzesse ste­hend, all ihre Hoff­nung in eine Rück­nahme der gewalt­sam durch die Sow­jets gezo­ge­nen Gren­zen mit­ten durch deutsches Gebi­et set­zten. „Nieder mit der Oder-Neiße-Gren­ze“, forderten bis zu 4000 Demon­stran­ten in der Gör­l­itzer Innen­stadt. Am frühen Nach­mit­tag wurde der Bürg­er­meis­ter abgewählt, eine freie Bürg­er­wehr ins Leben gerufen und ein Stadtkomi­tee gebildet. Die SED-Kreisleitung und das Gebäude der Staatssicher­heit wur­den gestürmt. „Freie Wahlen in ganz Deutsch­land“ war die poli­tis­che Forderung des Tages.

Darin zeigte sich zugle­ich im verbliebe­nen restlichen schle­sis­chen Land, aber auch in weit­en Teilen der jun­gen DDR, daß noch kein Bewußt­sein für die „his­torische Spal­tung“ Deutsch­lands und die damit ver­bun­dene dauer­hafte pol­nis­che und rus­sis­che Okku­pa­tion der Ost­ge­bi­ete ent­standen war. Das „Deutsch­land­lied“ wurde anges­timmt und set­zte sich in den Gassen der Stadt fort bis an die schmerzhaft gezo­gene Gren­ze der Neiße. Noch im Moment, da „die Russen“ kamen und Ein­heit­en der KVP das Zen­trum räumten, hallte es voll Inbrun­st durch die Stadt. Doch blieb die Hoff­nung ohne Wider­hall, und die herange­zo­ge­nen sow­jetis­chen Panz­er und kasernierte Volk­spolizis­ten stoppten auch hier den Traum nationaler Wiederge­burt.

Nicht nur in Ost-Berlin, aber beson­ders hier hat­te es viele Tote und Ver­wun­dete gegeben. Die genauen Opfer­zahlen sind jedoch nicht sich­er belegt. Doch gab es, nach offiziellen Angaben, während der Erhe­bung min­destens 383 Tote, die Mehrzahl davon Demon­stran­ten. Stan­drechtlich erschossen wur­den zudem 91 Per­so­n­en und weit­ere 14 Men­schen, die in den nach­fol­gen­den Prozessen zum Tode verurteilt und hin­gerichtet wur­den.

Ein beson­deres Kapi­tel bilde­ten dabei Sow­jet­sol­dat­en, die sich weigerten, auf Deutsche zu schießen. Schon während der Erhe­bung soll es zu Erschießun­gen meist sehr junger Rotarmis­ten gekom­men sein. Später, am 28. Juni 1953, wur­den im Rah­men eines Som­mer­manövers 18 sow­jetis­che Sol­dat­en hin­gerichtet, ein Fakt, der allerd­ings noch immer nicht als ver­i­fiziert gilt. Darüber hin­aus sollen Hun­derte Sow­jet­sol­dat­en wegen Befehlsver­weigerung im Rah­men des 17. Juni in Arbeit­slager ver­schleppt wor­den sein. Ein Jahr später, am 17. Juni 1954, ent­stand für diese „Opfer der Men­schlichkeit“ in Berlin-Zehlen­dorf ein schlicht­es Denkmal, an dessen Ein­wei­hung der let­zte in Ruß­land 1917 frei gewählte Min­is­ter­präsi­dent, Alexan­der Keren­s­ki, teil­nahm.

Die Erhe­bung war Geschichte. Doch etwas blieb haften und über­dauerte als Gedanke, als Idee, als Fanal nationaler Frei­heit — bis an das Ende der DDR. Noch in den let­zten Tagen des SED-Regimes 1989 lief Erich Mielke, seit 1957 Min­is­ter für Staatssicher­heit der DDR, durch die Räume seines Min­is­teri­ums und fragte: „Ist wieder 17. Juni?“

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Lit­er­atur:

  • Ilko-Sascha Kowal­czuk: 17. Juni 1953. Geschichte eines Auf­s­tands, München 2013
  • Hei­di Roth: Der 17. Juni 1953 in Gör­litz, Bautzen 2003