Bereits seit 1954 gab es in der Bundesrepublik Überlegungen, den durch das Wirtschaftswunder ausgelösten Arbeitskräftemangel durch die Anwerbung von ausländischen Arbeitskräften zu beheben. Als diese Überlegungen im November 1954 erstmals öffentlich wurden, sorgte das weniger für Entrüstung als für Verwunderung, denn immerhin waren zu diesem Zeitpunkt noch eine Million Deutsche arbeitslos gemeldet.
Hintergrund der Überlegungen war die ungleichmäßige Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt, die in der Landwirtschaft für Arbeitskräftemangel gesorgt hatte, den man mit italienischen Landarbeitern auffangen wollte. Der Anstoß dazu kam aus der Bauernschaft, die damit an eine lange Tradition ausländischer Erntehelfer anknüpfen wollte. Dem entsprach ein Angebot der italienischen Regierung, Arbeitskräfte nach Deutschland zu schicken.
Am 22. Dezember 1955 erfolgte in Rom die Unterzeichnung des deutsch-italienischen Anwerbeabkommens, des ersten Anwerbeabkommens überhaupt. Dabei wurde zwar beteuert, daß es nur um die Abdeckung des Spitzenbedarfs gehe, letztlich war damit aber ein Instrument gefunden, mit dem man den deutschen Arbeitsmarkt langfristig zu steuern gedachte.
Zum einen konnten mit der zusätzlichen Reserve an Arbeitskräften (die bislang die Vertriebenen und Flüchtlinge dargestellt hatten) Lohnerhöhungen vermieden werden, die aus Arbeitskräftemangel notwendig folgten. Zum anderen ging man davon aus, daß die ausländischen Arbeitskräfte mobil sein würden und daher leichter an den jeweiligen Brennpunkten eingesetzt werden könnten als Deutsche. Schließlich wollte man ein strukturelles Problem der boomenden deutschen Wirtschaft ausgleichen: Aufgrund des früheren Eintritts ins Rentenalter, längerer Ausbildungszeiten, der Absenkung der Wochenarbeitszeit und geburtenschwachen Jahrgänge war der Arbeitskräftemangel ohne schmerzvolle sozialpolitische Maßnahmen nicht mehr abzuwenden. Ein weiteres Argument war, daß die Gastarbeiter, wie man sie bald nannte, die Sozialsysteme kaum belasten würden, da sie jung und ausgebildet herkämen und vor Erreichen der Rente wieder in die Heimat gehen würden.
In der Folge wurden zwischen 1960 und 1968 weitere Anwerbeabkommen geschlossen: mit Griechenland, Spanien, der Türkei, Portugal, Jugoslawien, Marokko und Tunesien. Von diesen Abkommen hat sich insbesondere das mit Türkei vom 31. Oktober 1961 als verhängnisvoll erwiesen, weil aus dem arbeitsmarktpolitischen Steuerungselement ein demographischer Faktor wurde, der das Gesicht Westdeutschlands völlig verändert hat. Wie brisant dieses Abkommen im nachhinein war, zeigt die Tatsache, daß sich selbst Standardwerke zur Ausländerproblematik über die Hintergründe des Abkommen ausschweigen.
Das Anwerbeabkommen mit der Türkei kam auf Wunsch der türkischen Militärregierung und auf Druck der USA zustande. Es wurde federführend durch das deutsche Außenministerium abgeschlossen. Die Türkei befand sich zu dieser Zeit in einer sehr prekären wirtschaftlichen Situation. Die Amerikaner wollten die Militärregierung der Türkei unterstützen, da die Türkei 1959 der Stationierung von US-amerikanischen Atomraketen zugestimmt hatte und dadurch ein strategisch wichtiger NATO-Partner war.
Im Mai 1960 hatte es einen erneuten Putsch in der Türkei gegeben, und die Lage war so instabil, daß ein Ausscheren der Türkei aus der NATO befürchtet wurde. Die sehr schwierige wirtschaftliche Lage, die zum Teil Versorgungsengpässe zur Folge hatte, führte 1960 und 1961 zu Unruhen und zur Verhängung des Ausnahmezustands. Die Türkei wollte daher den Arbeitsmarkt durch die zeitweise Abgabe von Arbeitskräften entlasten, dadurch Devisen ins Land holen und mittelbar die Modernisierung durch die heimkehrenden, weitergebildeten Fachkräfte vorantreiben.
Das Anwerbeabkommen mit der Türkei (später auch die mit den nordafrikanischen Ländern) enthielt von Anfang an gegenüber den Abkommen mit westlichen Ländern einige Besonderheiten: Eine Anwerbung war ausschließlich für Unverheiratete vorgesehen, ein Familiennachzug bzw. die Familienzusammenführung wurde im Abkommen ausgeschlossen; eine Gesundheitsprüfung und eine Eignungsuntersuchung für die anzunehmende Arbeit sowie eine Obergrenze für den Aufenthalt von zwei Jahren wurden festgeschrieben, eine Verlängerung ausgeschlossen. Die Arbeitnehmer sollten nur aus den europäischen Gebieten der Türkei stammen. Auf Betreiben der Arbeitgeber, die an langfristigen Arbeitsverträgen interessiert waren, wurde die Befristung bereits 1964 ersatzlos gestrichen.
Zwischen 1961 und 1971 erhöhte sich die Zahl der Ausländer in der Bundesrepublik von 700000 auf mehr als drei Millionen. Insgesamt kamen in den Jahren 1962 bis 1974 8,8 Millionen Ausländer aus den Anwerberstaaten in die Bundesrepublik, „die größte Zuwanderung von Ausländern, die dieses Land je gesehen“ (Stefan Luft) und welche die Zusammensetzung des Staatsvolks für immer verändert hat. Bis zum generellen Anwerbestopp, der am 23. November 1973 von der Bundesregierung beschlossenen wurde und mit der Ölkrise und der folgenden Rezession zusammenfiel, nahm die Zahl der angeworbenen Arbeitnehmer ständig zu (lediglich der Konjunktureinbruch von 1967 führte zu einem kurzzeitigen Rückgang). Seit Anfang 1972 stellten die Türken den zahlenmäßig stärksten Anteil der Gastarbeiter (davor Italien). Nach dem Anwerbestopp verließ fast die Hälfte der Griechen und Spanier Deutschland, während die Zahl der Türken fast konstant blieb.
In der Folge nahm die Zahl der Türken stetig zu, da der Familiennachzug sich nahezu vervierfachte. Das wurde nicht zuletzt durch falsch berechnete Steuerelemente wie die Kindergeldzahlungen, die für in Deutschland lebende türkische Kinder höher ausfielen als für Kinder ehemaliger Gastarbeiter in der Türkei, befeuert. Auch die Auslobung von Rückkehrprämien konnte die Tendenz nicht umkehren.
Im Ergebnis wurde das Gegenteil von dem ursprünglich Gewollten erreicht: Die Türken wurden in Deutschland seßhaft und stellten keine mobile Arbeitsmarktreserve mehr dar. Für die Industrie war das Problem damit erledigt, für den Staat (und den Steuerzahler) fingen die Probleme erst richtig an, da er für die Folgekosten aufkommen muß. Der Import an Arbeitskräften weist daher eine deutliche negative volkswirtschaftliche Bilanz auf, nicht zuletzt wegen der überproportional hohen Arbeitslosigkeit der Nachkommen der Gastarbeiter.
Die Schlußfolgerung lautet gegenwärtig dennoch nicht, in Zukunft auf Einwanderung zu verzichten. Im Gegenteil: Mehr denn je wird suggeriert — ohne dafür stichhaltige Argumente präsentieren zu können -, daß ohne Einwanderung unser Wohlstand in Gefahr sei. Und auch heute werden die Folgen ausgeblendet.
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Literatur:
- Ulrich Herbert: Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland, München 2001
- Ferdinand Knauß: Wachstum über alles? Wie der Journalismus zum Sprachrohr der Ökonomen wurde, München 2016
- Heike Knortz: Diplomatische Tauschgeschäfte. „Gastarbeiter“ in der westdeutschen Diplomatie und Beschäftigungspolitik 1953–1973, Köln 2008
- Stefan Luft: Abschied von Multikulti. Wege aus der Integrationskrise, Gräfelfing 2007