1972 — Bundestag ratifiziert den Warschauer Vertrag

Noch 1964 hat­te Her­bert Wehn­er gegenüber den Heimatver­triebe­nen betont, daß die ein­seit­ige Grenzziehung ent­lang der soge­nan­nten Oder-Neiße-Gren­ze und die damit ver­bun­dene Annex­ion deutschen Gebi­ets „für uns Sozialdemokrat­en nicht recht­skräftig“ sei. In sein­er ersten Regierungserk­lärung am 28. Okto­ber 1969 schlug der neue Bun­deskan­zler Willy Brandt ganz andere Töne an. Den Tschechen und Polen machte Brandt darin Hoff­nun­gen auf Zugeständ­nisse und reagierte damit u.a. auf ein Ange­bot der pol­nis­chen Regierung, die der BRD einen inter­na­tionalen Ver­trag über die endgültige Anerken­nung der pol­nis­chen West­gren­ze vorgeschla­gen hat­te.

Der Weg dahin, soviel war klar, führte nur über die alli­ierten Siegermächte, die immer noch die Hoheit­srechte über den Rest Deutsch­lands ausübten. Nach anfänglich­er Weigerung waren auch die Sow­jets zu Zugeständ­nis­sen bere­it, das Selb­st­bes­tim­mungsrecht der Deutschen als the­o­retis­che Forderung zu akzep­tieren. Zumin­d­est auf dem Papi­er war das der Fall, als die Russen dem Zusam­men­hang zwis­chen der Akzep­tanz der Nachkriegs­gren­zen und dem gegen­seit­i­gen Gewaltverzicht zus­timmten. Der Moskauer Ver­trag, in dem das fest­ge­hal­ten wurde, machte für die sozial­lib­erale Koali­tion den Weg frei für den Warschauer Ver­trag, der wesentlich umstrit­ten­er war, denn hier würde es nicht um fik­tive Formeln des Wohlwol­lens, son­dern um die ein­seit­ige Klärung ein­er offe­nen Frage, die Anerken­nung der Oder-Neiße-Gren­ze, gehen.

Die Debat­ten bezo­gen sich auf die völk­er­rechtlich anerkan­nten Gren­zen des Deutschen Reich­es vom 31. Dezem­ber 1937. Darin waren die Revi­sio­nen des Ver­sailler Ver­trags (Rhein­land, Saar­land) enthal­ten, nicht aber der Anschluß Öster­re­ichs und die Eingliederung des Sude­ten­lands (1938) sowie das Pro­tek­torat Böh­men und Mähren (1939). Die an sich völk­er­recht­skon­forme Rück­führung des Memel­lan­des (1939) war eben­falls nicht berück­sichtigt.

Die östlich von Oder und Lausitzer Neiße gele­ge­nen Gebi­ete gal­ten nach dem Pro­tokoll über die Besatzungszo­nen in Deutsch­land als Teil der sow­jetis­chen Besatzungszone. Sie wur­den, vor­be­haltlich „der endgülti­gen Bes­tim­mungen der ter­ri­to­ri­alen Fra­gen bei der Frieden­sregelung“, unter sow­jetis­che und pol­nis­che Ver­wal­tung gestellt. Den­noch wur­den nicht nur durch die Vertrei­bung der deutschen Bevölkerung, son­dern auch durch Ver­wal­tungsak­te und bilat­erale Verträge zwis­chen Polen und der Sow­je­tu­nion ein­er­seits und zwis­chen Polen und der DDR Tat­sachen geschaf­fen, die eine endgültige Inte­gra­tion der „wiederge­wonnenen Gebi­ete“ in den pol­nis­chen Staat zum Ziel hat­ten.

Brandt und Außen­min­is­ter Walther Scheel war klar, daß sie den Ver­trag in Warschau am 7. Dezem­ber 1970 ohne Rück­endeck­ung durch die Mehrheit des west­deutschen Volkes unterze­ich­nen wür­den. Der Ver­trag legte schließlich aus­drück­lich fest, daß die Oder-Neiße-Lin­ie die endgültige West­gren­ze Polens sein sollte und man kein­er­lei Gebi­et­sansprüche gegeneinan­der erhob und auch nicht erheben würde.

Die West­al­li­ierten legten Wert auf die Fest­stel­lung, die den Polen zur Ken­nt­nis gebracht wurde, daß der Ver­trag zwis­chen der BRD und Polen im Zweifel nichts wert sein würde, da sie ihre Rechte dadurch unberührt sahen. Das schloß immer­hin die Möglichkeit ein, im Zuge eines Friedensver­trags, in dem die Gren­zen fest­gelegt wür­den, zu anderen Fes­tle­gun­gen zu kom­men. Brandt ver­stand den Ver­trag aber dur­chaus als „Preis­gabe“ der Ost­ge­bi­ete, wen­ngle­ich er meinte, nur Ver­lorenes preis­gegeben zu haben. Das sei ihm leichter gefall­en, als sich das Rauchen abzugewöh­nen.

Die Ver­triebe­nen set­zten auf ihre Vertreter im Bun­destag, den Ver­trag doch noch zu ver­hin­dern (Her­bert Hup­ka, Präsi­dent der Lands­man­nschaft Schle­sien und Vizepräsi­dent des Bun­des der Ver­triebe­nen war deshalb von der SPD zur CDU gewech­selt). Doch diese waren, nach­dem Brandt Ende 1971 den Frieden­sno­bel­preis bekom­men hat­te, moralisch angeschla­gen und in der Defen­sive.

Im Feb­ru­ar 1972 wur­den die Ostverträge (die neben dem Moskauer und dem Warschauer Ver­trag noch das Vier­mächte­abkom­men und den Prager Ver­trag sowie das Tran­sitabkom­men und den Grund­la­gen­ver­trag mit der DDR umfaßten) im Bun­destag debat­tiert. Die CDU-Oppo­si­tion wollte nur zus­tim­men, wenn die Sow­jets weit­ere Zugeständ­nisse bei der Anerken­nung des deutschen Selb­st­bes­tim­mungsrechts und dem Ziel der deutschen Ein­heit machen wür­den. Ein Miß­trauensvo­tum über­lebte Brandt nur unter Zuhil­fe­nahme ille­galer Mit­tel der Bestechung min­destens eines CDU-Abge­ord­neten.

Um die Ostverträge zu ret­ten, ver­faßte man eine gemein­same Entschließung des Bun­destages, die betonte, daß man mit der Anerken­nung der Gren­ze nicht den alli­ierten Recht­en vor­greifen wolle und sich zur NATO bekenne. Diese wurde fast ein­stim­mig angenom­men. Bei den Ostverträ­gen selb­st hat­te man sich auf einen Deal geeinigt, der der CDU/CSU eine gewisse Gesichtswahrung ermöglichte: Man würde sich enthal­ten und die Verträge so passieren lassen. Dem wider­set­zten sich nur 17 Abge­ord­nete, die gegen den Warschauer Ver­trag stimmten.

Der anschließende Gang vor das Bun­desver­fas­sungs­gericht führte zu der erwarteten salomonis­chen Antwort. Es stellte im Juli 1975 fest, daß die Bun­desre­pub­lik nicht in der Lage gewe­sen sei, auf die Gebi­ete östlich von Oder und Neiße zu verzicht­en: “Der Wille der Bun­desre­pub­lik, bei den Gren­zregelun­gen der Verträge von Moskau und Warschau nicht über den ter­ri­to­ri­alen Sta­tus Deutsch­lands zu ver­fü­gen, war auch für die Ver­tragspart­ner erkennbar und hat sog­ar seinen Nieder­schlag in den Verträ­gen selb­st gefun­den. Nach Art. 4 des Moskauer Ver­trages bleiben die von den Ver­tragspart­nern früher abgeschlosse­nen zwei­seit­i­gen und mehr­seit­i­gen Verträge und Vere­in­barun­gen unberührt. Hierzu gehören auch die Abkom­men, aus denen sich die Rechte und Ver­ant­wortlichkeit­en der Vier Mächte in bezug auf Deutsch­land als Ganzes ergeben.”

Auf diese Äußerun­gen kon­nte kein Heimatver­trieben­er die Hoff­nung bauen, sein Eigen­tum jemals wiederzubekom­men. Poli­tisch waren die Ost­ge­bi­ete ohne­hin längst ver­loren. Auch vor Brandt hat­te es keine ern­sthaften Bemühun­gen gegeben, diese Gebi­ete zurück­zugewin­nen. Die Macht des Fak­tis­chen stand und ste­ht dem so lange ent­ge­gen, bis irgend­wann ein ern­sthafter poli­tis­ch­er Wille sich diesem Prob­lem annimmt.

Das ist auch in Zukun­ft nicht zu erwarten, da durch den Zwei-plus-Vier-Ver­trag (1990 unterze­ich­net, 1991 in Kraft getreten) die Frage der Ost­ge­bi­ete als abgeschlossen anzuse­hen ist. Auch wenn immer wieder bemän­gelt wird, daß es keinen formellen Friedensver­trag gibt, Deutsch­land nicht als sou­verän­er Staat seine Geschicke bes­tim­men kann und weit­er­hin unter die Feind­staaten­klausel der Vere­in­ten Natio­nen fällt, fol­gen daraus keine poli­tis­chen Kon­se­quen­zen. Davon völ­lig unberührt bleibt die Tat­sache, daß es sich bei den Ost­ge­bi­eten immer um einen wesentlichen Teil Deutsch­lands han­deln wird, ohne den unsere Geschichte und unsere Kul­tur nicht zu ver­ste­hen sind.

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Lit­er­atur: 

  • Dieter Blu­men­witz: Staaten­nach­folge und die Eini­gung Deutsch­lands, Teil 1: Völk­er­rechtliche Verträge, Berlin 1992
  • Jörg-Detlef Kühne: Zu Verän­derungsmöglichkeit­en der Oder-Neiße-Lin­ie nach 1945, Baden-Baden 2007
  • Klaus Rehbein: Die west­deutsche Oder-Neiße-Debat­te. Hin­ter­gründe, Prozeß und Ende des Bon­ner Tabus, Berlin 2005