Noch 1964 hatte Herbert Wehner gegenüber den Heimatvertriebenen betont, daß die einseitige Grenzziehung entlang der sogenannten Oder-Neiße-Grenze und die damit verbundene Annexion deutschen Gebiets „für uns Sozialdemokraten nicht rechtskräftig“ sei. In seiner ersten Regierungserklärung am 28. Oktober 1969 schlug der neue Bundeskanzler Willy Brandt ganz andere Töne an. Den Tschechen und Polen machte Brandt darin Hoffnungen auf Zugeständnisse und reagierte damit u.a. auf ein Angebot der polnischen Regierung, die der BRD einen internationalen Vertrag über die endgültige Anerkennung der polnischen Westgrenze vorgeschlagen hatte.
Der Weg dahin, soviel war klar, führte nur über die alliierten Siegermächte, die immer noch die Hoheitsrechte über den Rest Deutschlands ausübten. Nach anfänglicher Weigerung waren auch die Sowjets zu Zugeständnissen bereit, das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen als theoretische Forderung zu akzeptieren. Zumindest auf dem Papier war das der Fall, als die Russen dem Zusammenhang zwischen der Akzeptanz der Nachkriegsgrenzen und dem gegenseitigen Gewaltverzicht zustimmten. Der Moskauer Vertrag, in dem das festgehalten wurde, machte für die sozialliberale Koalition den Weg frei für den Warschauer Vertrag, der wesentlich umstrittener war, denn hier würde es nicht um fiktive Formeln des Wohlwollens, sondern um die einseitige Klärung einer offenen Frage, die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze, gehen.
Die Debatten bezogen sich auf die völkerrechtlich anerkannten Grenzen des Deutschen Reiches vom 31. Dezember 1937. Darin waren die Revisionen des Versailler Vertrags (Rheinland, Saarland) enthalten, nicht aber der Anschluß Österreichs und die Eingliederung des Sudetenlands (1938) sowie das Protektorat Böhmen und Mähren (1939). Die an sich völkerrechtskonforme Rückführung des Memellandes (1939) war ebenfalls nicht berücksichtigt.
Die östlich von Oder und Lausitzer Neiße gelegenen Gebiete galten nach dem Protokoll über die Besatzungszonen in Deutschland als Teil der sowjetischen Besatzungszone. Sie wurden, vorbehaltlich „der endgültigen Bestimmungen der territorialen Fragen bei der Friedensregelung“, unter sowjetische und polnische Verwaltung gestellt. Dennoch wurden nicht nur durch die Vertreibung der deutschen Bevölkerung, sondern auch durch Verwaltungsakte und bilaterale Verträge zwischen Polen und der Sowjetunion einerseits und zwischen Polen und der DDR Tatsachen geschaffen, die eine endgültige Integration der „wiedergewonnenen Gebiete“ in den polnischen Staat zum Ziel hatten.
Brandt und Außenminister Walther Scheel war klar, daß sie den Vertrag in Warschau am 7. Dezember 1970 ohne Rückendeckung durch die Mehrheit des westdeutschen Volkes unterzeichnen würden. Der Vertrag legte schließlich ausdrücklich fest, daß die Oder-Neiße-Linie die endgültige Westgrenze Polens sein sollte und man keinerlei Gebietsansprüche gegeneinander erhob und auch nicht erheben würde.
Die Westalliierten legten Wert auf die Feststellung, die den Polen zur Kenntnis gebracht wurde, daß der Vertrag zwischen der BRD und Polen im Zweifel nichts wert sein würde, da sie ihre Rechte dadurch unberührt sahen. Das schloß immerhin die Möglichkeit ein, im Zuge eines Friedensvertrags, in dem die Grenzen festgelegt würden, zu anderen Festlegungen zu kommen. Brandt verstand den Vertrag aber durchaus als „Preisgabe“ der Ostgebiete, wenngleich er meinte, nur Verlorenes preisgegeben zu haben. Das sei ihm leichter gefallen, als sich das Rauchen abzugewöhnen.
Die Vertriebenen setzten auf ihre Vertreter im Bundestag, den Vertrag doch noch zu verhindern (Herbert Hupka, Präsident der Landsmannschaft Schlesien und Vizepräsident des Bundes der Vertriebenen war deshalb von der SPD zur CDU gewechselt). Doch diese waren, nachdem Brandt Ende 1971 den Friedensnobelpreis bekommen hatte, moralisch angeschlagen und in der Defensive.
Im Februar 1972 wurden die Ostverträge (die neben dem Moskauer und dem Warschauer Vertrag noch das Viermächteabkommen und den Prager Vertrag sowie das Transitabkommen und den Grundlagenvertrag mit der DDR umfaßten) im Bundestag debattiert. Die CDU-Opposition wollte nur zustimmen, wenn die Sowjets weitere Zugeständnisse bei der Anerkennung des deutschen Selbstbestimmungsrechts und dem Ziel der deutschen Einheit machen würden. Ein Mißtrauensvotum überlebte Brandt nur unter Zuhilfenahme illegaler Mittel der Bestechung mindestens eines CDU-Abgeordneten.
Um die Ostverträge zu retten, verfaßte man eine gemeinsame Entschließung des Bundestages, die betonte, daß man mit der Anerkennung der Grenze nicht den alliierten Rechten vorgreifen wolle und sich zur NATO bekenne. Diese wurde fast einstimmig angenommen. Bei den Ostverträgen selbst hatte man sich auf einen Deal geeinigt, der der CDU/CSU eine gewisse Gesichtswahrung ermöglichte: Man würde sich enthalten und die Verträge so passieren lassen. Dem widersetzten sich nur 17 Abgeordnete, die gegen den Warschauer Vertrag stimmten.
Der anschließende Gang vor das Bundesverfassungsgericht führte zu der erwarteten salomonischen Antwort. Es stellte im Juli 1975 fest, daß die Bundesrepublik nicht in der Lage gewesen sei, auf die Gebiete östlich von Oder und Neiße zu verzichten: “Der Wille der Bundesrepublik, bei den Grenzregelungen der Verträge von Moskau und Warschau nicht über den territorialen Status Deutschlands zu verfügen, war auch für die Vertragspartner erkennbar und hat sogar seinen Niederschlag in den Verträgen selbst gefunden. Nach Art. 4 des Moskauer Vertrages bleiben die von den Vertragspartnern früher abgeschlossenen zweiseitigen und mehrseitigen Verträge und Vereinbarungen unberührt. Hierzu gehören auch die Abkommen, aus denen sich die Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte in bezug auf Deutschland als Ganzes ergeben.”
Auf diese Äußerungen konnte kein Heimatvertriebener die Hoffnung bauen, sein Eigentum jemals wiederzubekommen. Politisch waren die Ostgebiete ohnehin längst verloren. Auch vor Brandt hatte es keine ernsthaften Bemühungen gegeben, diese Gebiete zurückzugewinnen. Die Macht des Faktischen stand und steht dem so lange entgegen, bis irgendwann ein ernsthafter politischer Wille sich diesem Problem annimmt.
Das ist auch in Zukunft nicht zu erwarten, da durch den Zwei-plus-Vier-Vertrag (1990 unterzeichnet, 1991 in Kraft getreten) die Frage der Ostgebiete als abgeschlossen anzusehen ist. Auch wenn immer wieder bemängelt wird, daß es keinen formellen Friedensvertrag gibt, Deutschland nicht als souveräner Staat seine Geschicke bestimmen kann und weiterhin unter die Feindstaatenklausel der Vereinten Nationen fällt, folgen daraus keine politischen Konsequenzen. Davon völlig unberührt bleibt die Tatsache, daß es sich bei den Ostgebieten immer um einen wesentlichen Teil Deutschlands handeln wird, ohne den unsere Geschichte und unsere Kultur nicht zu verstehen sind.
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Literatur:
- Dieter Blumenwitz: Staatennachfolge und die Einigung Deutschlands, Teil 1: Völkerrechtliche Verträge, Berlin 1992
- Jörg-Detlef Kühne: Zu Veränderungsmöglichkeiten der Oder-Neiße-Linie nach 1945, Baden-Baden 2007
- Klaus Rehbein: Die westdeutsche Oder-Neiße-Debatte. Hintergründe, Prozeß und Ende des Bonner Tabus, Berlin 2005