Es ist ein Triumphzug in Wollpullovern. Über den Bahnhofsvorplatz und die Kaiserstraße zieht am 29. März 1983 ein merkwürdiger Troß mit Sonnenblumen und Topfpflanzen durch die Bonner Innenstadt. Ziel des Spaziergangs ist der Bundestag, in dessen Plenum an diesem Tag erstmals 28 Vertreter der Partei „Die Grünen“ Platz nehmen dürfen. Die Gelegenheit zum Demonstrationszug von der Parteizentrale, einer morbiden Gründerzeitvilla an der Quantiusstraße, läßt sich die vermeintliche „Anti-Parteien-Partei“ (Petra Kelly) nicht nehmen. Der von der „68er“-Bewegung proklamierte „Marsch durch die Institutionen“, er hat an diesem Tag ein symbolisches Bild bekommen. Vorbei ist er damit noch lange nicht.
Der Aufstieg der Grünen verläuft rasant. Gerade einmal drei Jahre zuvor beginnt sich der Begriff in der Öffentlichkeit als Marke festzusetzen. Und das liegt nicht nur daran, daß die Aktivisten beim Gründungsparteitag am 12. und 13. Januar 1980 in Karlsruhe das tun, was auch in den Folgejahren zu einem ihrer Charakteristika werden soll: streiten. Es ist nicht weniger als ein Häutungsprozeß, der sich in der Gründungsphase der Partei vollzieht. Wie bald offenkundig wird, nutzen Überbleibsel der linksextremen K‑Gruppen die Gelegenheit, auf das politische Vehikel aufzuspringen. So dauert es auch nicht allzu lange, bis die Bewegung in der Presse das Etikett „Melonenpartei“ angeheftet bekommt: „außen grün und innen rot“. Mit dem Einzug in den Bundestag trägt der Kampf gegen den NATO-Doppelbeschluß, forciert von der linksalternativen Subkultur und mitfinanziert von den Geheimdiensten des Warschauer Pakts, politische Früchte.
Dabei liegen die Ursprünge der grünen Graswurzelbewegung keineswegs nur in jener „Neuen Linken“, die aus der Studentenbewegung herausgewachsen war. Eine mindestens ebenso tragende Rolle spielen konservative Umweltschutzorganisationen und Bürgerinitiativen, die Skepsis gegenüber dem schrankenlosen Wachstums- und Fortschrittsoptimismus der Aufbaujahre anmelden, wie er in den sechziger und siebziger Jahren besonders durch die CDU verkörpert wird. Gelegenheit zur Bildung von Netzwerken bieten etwa die zahlreichen Anti-Atomkraft-Aktionen.
Wie so oft ist es das „politische Versuchslabor“ Frankreich, das zu einem Weckruf in Deutschland führt: Als im Nachbarland bei den Kommunalwahlen 1977 linke Wahlbündnisse gemeinsam mit Umweltschützern Erfolge einfahren, will man es ihnen hierzulande gleichtun. Es funktioniert: Im Oktober 1977 erlangen „grüne“ Listen die ersten Mandate in Niedersachsen; 1978 tragen Zusammenschlüsse aus konservativ-ökologischen Initiativen und linken Gruppen auch in Hamburg, Berlin, Hessen und Bayern Früchte, gewinnen Kommunalmandate und kandidieren zu Landtagswahlen. Bei der Europawahl im Juni 1979 erreicht die „Sonstige Politische Vereinigung (SPV) Die Grünen“ aus dem Stand 3,2 Prozent. In Bremen schafft die Grüne Liste 1979 den Sprung in ein Landesparlament.
Schnell ist mit der Sonstigen Politische Vereinigung ein gemeinsames Becken entstanden, in dem sich jedoch längst nicht alle Elemente vertragen. Es kommt zu offenen Konflikten zwischen linken Ideologen und Bürgerlichen, die in dem Streit alsbald unterliegen. So scheitert der konservative Ökologe Baldur Springmann mit dem Antrag, Mitgliedern anderer, insbesondere kommunistischer Organisationen die Mitgliedschaft in der neuen Partei zu verwehren. Einigkeit besteht hingegen weiterhin in dem Anspruch, eine Alternative zu den etablierten Parteien zu bieten: „Wir sind die Alternative zu den herkömmlichen Parteien“, heißt es in der Präambel des ersten Parteiprogramms nach der offiziellen Gründung. Bereits im Gründungsjahr treten die bekannten Vertreter der konservativen Flanke aus der Partei aus. Gruhl und Springmann heben 1982 in München gemeinsam mit anderen die Ökologisch-Demokratische Partei (ÖDP) aus der Taufe, von der sie sich später ebenfalls resigniert abwenden.
Für die Grünen ist die Trennung vom konservativen Flügel jedoch erst der Anfang der internen Grabenkämpfe: die Auseinandersetzung zwischen den sogenannten „Fundis“, also den radikallinken Fundamentalisten, auf der einen und den „Realos“ auf der anderen Seite, für die eine mittelfristige Beteiligung am „System“ durch Regierungsbeteiligung nicht gänzlich ausgeschlossen ist. Zu beliebten Symbolfiguren der Medien werden Jutta von Ditfurth als Exponentin der „Fundis“ und Joseph Fischer, genannt Joschka, als ihr wichtigster Gegenspieler.
Joschka Fischers ausgetretene Turnschuhe sind über 30 Jahre nach dem Einzug der Grünen in den Bundestag (März 1983) im Bonner Haus der Geschichte zu bestaunen. Die bundesrepublikanische Reliquie befindet sich am 12. Dezember 1985 an den Füßen Fischers, als dieser im Hessischen Landtag als erster grüner Minister vereidigt wird. Sein Auftritt in Jeanshose garantiert ihm ebenso mediale Aufmerksamkeit wie sein Zwischenruf 1984 im Bonner Plenarsaal, als er Bundestagsvizepräsident Richard Stücklen „mit Verlaub“ als „Arschloch“ tituliert. Ihm und seiner Partei schadet die flegelhaft-infantile Attitüde nicht, im Gegenteil. Die achtziger Jahre werden zur Erfolgsspur der Grünen, gestützt auf großstädtische, studentische Milieus und linke Subkulturen und nicht zuletzt dank der SPD, die den Wert der Öko-Partei als willkommene Mehrheitsbeschafferin schnell erkennt und nutzt.
Erst die — vor allem für die politische Linke — unerwartete Wiedervereinigung bremst den Vormarsch. Die Grünen vermögen mit dem Thema nichts anzufangen. „Alle reden von Deutschland. Wir reden vom Klima“, so plakatieren die West-Grünen bei der Bundestagswahl 1990 und scheitern prompt an der Fünfprozenthürde. Es sind die Grünen in der bisherigen DDR, die der Partei die parlamentarische Existenz sichern.
In den neunziger Jahren sorgen maßgeblich Joschka Fischer und Jürgen Trittin dafür, daß sich die Grünen endgültig zu einer „ganz normalen Partei“ wandeln und zwischen 1998 und 2005 mit der SPD die Bundesregierung stellen. Mit Winfried Kretschmann, früher aktiv beim Kommunistischen Bund Westdeutschland, stellen die Grünen in Baden-Württemberg seit 2011 erstmals einen Ministerpräsidenten. Das verhindert nicht, daß sich die Grünen 2013 einer öffentlichen Debatte darüber stellen müssen, wie die Partei in den achtziger Jahren zu Vertretern der Pädophilenbewegung stand und wie einschlägige Äußerungen von prominenten Grünen-Vertretern wie Volker Beck und Daniel Cohn-Bendit zu bewerten seien.
Einen ganz anderen Skandal hat die Partei zu diesem Zeitpunkt längst hinter sich gelassen. Drei Jahre nachdem Joschka Fischer 1998 als Bundesaußenminister und Vizekanzler in einer rot-grünen Bundesregierung den Marsch durch die Institutionen vollendet hat, holt ihn seine Vergangenheit als mutmaßlicher Gewalttäter innerhalb der Frankfurter Sponti-Szene der siebziger Jahre ein. Im Januar 2001 veröffentlicht die Zeitschrift Stern Fotos, die ihr die Tochter von Ulrike Meinhof und Klaus Rainer Röhl, Bettina Röhl, zugespielt hat. Die Bilder zeigen den späteren Außenminister und einige Mitstreiter während einer Demonstration im April 1973 in Frankfurt am Main, bei der die Gruppe einen einzelnen Polizeibeamten zusammenschlägt und auf den am Boden Liegenden eintritt.
Bei der Demonstration in Frankfurt wurde ein Polizeifahrzeug von einem Brandsatz getroffen, ein 23jähriger Polizeibeamter schwer verletzt. Lange Zeit stand nicht fest, ob er angesichts seiner schweren Brandverletzungen überleben werde. Am Abend desselben Tages feierten Fischers Genossen ihren Sieg auf dem Universitätscampus unter einem Transparent mit der flammenden Aufschrift: „Auch ein brennender Polizist ist eine Propaganda der Liebe!“ Fischer wird Jahrzehnte später im Stern erklären: “Ja, ich war militant. Wir haben Häuser besetzt, und wenn die geräumt werden sollten, haben wir uns gewehrt. Wir haben Steine geworfen. Wir wurden verdroschen, aber wir haben auch kräftig hingelangt.”
Aber, so Fischer kurz darauf im Bundestag: “1968 und das Folgende hat zu mehr Freiheit und nicht zu weniger Freiheit in diesem Lande geführt.” Darauf, daß mit der Form der Reaktion der bis dahin anerkannte antitotalitäre Grundkonsens aufgekündigt wurde, ging Fischer nicht ein. Weitaus nachhaltiger als einzelne Gewaltexzesse wirken indes die gesellschaftlichen Veränderungen, bei denen die Grünen weiterhin Hand anlegen.
– — –
Literatur:
- Silke Mende: „Nicht rechts, nicht links, sondern vorn“. Eine Geschichte der Gründungsgrünen, München 2011
- Christian Schmidt: Wir sind die Wahnsinnigen. Joschka Fischer und seine Frankfurter Gang, München 1998
- Edgar Wolfrum: Rot-Grün an der Macht. Deutschland 1998–2005, München 2013