1985 — Joseph Fischer wird als hessischer Umweltminister vereidigt

Es ist ein Tri­umphzug in Wollpullovern. Über den Bahn­hofsvor­platz und die Kaiser­straße zieht am 29. März 1983 ein merk­würdi­ger Troß mit Son­nen­blu­men und Topf­pflanzen durch die Bon­ner Innen­stadt. Ziel des Spazier­gangs ist der Bun­destag, in dessen Plenum an diesem Tag erst­mals 28 Vertreter der Partei „Die Grü­nen“ Platz nehmen dür­fen. Die Gele­gen­heit zum Demon­stra­tionszug von der Parteizen­trale, ein­er mor­biden Grün­derzeitvil­la an der Quan­tiusstraße, läßt sich die ver­meintliche „Anti-Parteien-Partei“ (Petra Kel­ly) nicht nehmen. Der von der „68er“-Bewegung proklamierte „Marsch durch die Insti­tu­tio­nen“, er hat an diesem Tag ein sym­bol­is­ches Bild bekom­men. Vor­bei ist er damit noch lange nicht.

Der Auf­stieg der Grü­nen ver­läuft ras­ant. Ger­ade ein­mal drei Jahre zuvor begin­nt sich der Begriff in der Öffentlichkeit als Marke festzuset­zen. Und das liegt nicht nur daran, daß die Aktivis­ten beim Grün­dungsparteitag am 12. und 13. Jan­u­ar 1980 in Karl­sruhe das tun, was auch in den Fol­ge­jahren zu einem ihrer Charak­ter­is­ti­ka wer­den soll: stre­it­en. Es ist nicht weniger als ein Häu­tung­sprozeß, der sich in der Grün­dungsphase der Partei vol­lzieht. Wie bald offenkundig wird, nutzen Überbleib­sel der link­sex­tremen K‑Gruppen die Gele­gen­heit, auf das poli­tis­che Vehikel aufzus­prin­gen. So dauert es auch nicht allzu lange, bis die Bewe­gung in der Presse das Etikett „Mel­o­nen­partei“ ange­heftet bekommt: „außen grün und innen rot“. Mit dem Einzug in den Bun­destag trägt der Kampf gegen den NATO-Dop­pelbeschluß, forciert von der linksalter­na­tiv­en Sub­kul­tur und mit­fi­nanziert von den Geheim­di­en­sten des Warschauer Pak­ts, poli­tis­che Früchte.

Dabei liegen die Ursprünge der grü­nen Graswurzel­be­we­gung keineswegs nur in jen­er „Neuen Linken“, die aus der Stu­den­ten­be­we­gung her­aus­gewach­sen war. Eine min­destens eben­so tra­gende Rolle spie­len kon­ser­v­a­tive Umweltschut­zor­gan­i­sa­tio­nen und Bürg­erini­tia­tiv­en, die Skep­sis gegenüber dem schranken­losen Wach­s­tums- und Fortschrittsop­ti­mis­mus der Auf­bau­jahre anmelden, wie er in den sechziger und siebziger Jahren beson­ders durch die CDU verkör­pert wird. Gele­gen­heit zur Bil­dung von Net­zw­erken bieten etwa die zahlre­ichen Anti-Atom­kraft-Aktio­nen.

Wie so oft ist es das „poli­tis­che Ver­such­sla­bor“ Frankre­ich, das zu einem Weck­ruf in Deutsch­land führt: Als im Nach­bar­land bei den Kom­mu­nal­wahlen 1977 linke Wahlbünd­nisse gemein­sam mit Umweltschützern Erfolge ein­fahren, will man es ihnen hierzu­lande gle­ich­tun. Es funk­tion­iert: Im Okto­ber 1977 erlan­gen „grüne“ Lis­ten die ersten Man­date in Nieder­sach­sen; 1978 tra­gen Zusam­men­schlüsse aus kon­ser­v­a­tiv-ökol­o­gis­chen Ini­tia­tiv­en und linken Grup­pen auch in Ham­burg, Berlin, Hes­sen und Bay­ern Früchte, gewin­nen Kom­mu­nal­man­date und kan­di­dieren zu Land­tagswahlen. Bei der Europawahl im Juni 1979 erre­icht die „Son­stige Poli­tis­che Vere­ini­gung (SPV) Die Grü­nen“ aus dem Stand 3,2 Prozent. In Bre­men schafft die Grüne Liste 1979 den Sprung in ein Lan­despar­la­ment.

Schnell ist mit der Son­sti­gen Poli­tis­che Vere­ini­gung ein gemein­sames Beck­en ent­standen, in dem sich jedoch längst nicht alle Ele­mente ver­tra­gen. Es kommt zu offe­nen Kon­flik­ten zwis­chen linken Ide­olo­gen und Bürg­er­lichen, die in dem Stre­it als­bald unter­liegen. So scheit­ert der kon­ser­v­a­tive Ökologe Bal­dur Spring­mann mit dem Antrag, Mit­gliedern ander­er, ins­beson­dere kom­mu­nis­tis­ch­er Organ­i­sa­tio­nen die Mit­glied­schaft in der neuen Partei zu ver­wehren. Einigkeit beste­ht hinge­gen weit­er­hin in dem Anspruch, eine Alter­na­tive zu den etablierten Parteien zu bieten: „Wir sind die Alter­na­tive zu den herkömm­lichen Parteien“, heißt es in der Präam­bel des ersten Parteipro­gramms nach der offiziellen Grün­dung. Bere­its im Grün­dungs­jahr treten die bekan­nten Vertreter der kon­ser­v­a­tiv­en Flanke aus der Partei aus. Gruhl und Spring­mann heben 1982 in München gemein­sam mit anderen die Ökol­o­gisch-Demokratis­che Partei (ÖDP) aus der Taufe, von der sie sich später eben­falls resig­niert abwen­den.

Für die Grü­nen ist die Tren­nung vom kon­ser­v­a­tiv­en Flügel jedoch erst der Anfang der inter­nen Grabenkämpfe: die Auseinan­der­set­zung zwis­chen den soge­nan­nten „Fundis“, also den radikallinken Fun­da­men­tal­is­ten, auf der einen und den „Rea­los“ auf der anderen Seite, für die eine mit­tel­fristige Beteili­gung am „Sys­tem“ durch Regierungs­beteili­gung nicht gän­zlich aus­geschlossen ist. Zu beliebten Sym­bol­fig­uren der Medi­en wer­den Jut­ta von Dit­furth als Expo­nentin der „Fundis“ und Joseph Fis­ch­er, genan­nt Josch­ka, als ihr wichtig­ster Gegen­spiel­er.

Josch­ka Fis­ch­ers aus­ge­tretene Turn­schuhe sind über 30 Jahre nach dem Einzug der Grü­nen in den Bun­destag (März 1983) im Bon­ner Haus der Geschichte zu bestaunen. Die bun­desre­pub­likanis­che Reliquie befind­et sich am 12. Dezem­ber 1985 an den Füßen Fis­ch­ers, als dieser im Hes­sis­chen Land­tag als erster grün­er Min­is­ter verei­digt wird. Sein Auftritt in Jean­shose garantiert ihm eben­so medi­ale Aufmerk­samkeit wie sein Zwis­chen­ruf 1984 im Bon­ner Ple­narsaal, als er Bun­destagsvizepräsi­dent Richard Stücklen „mit Ver­laub“ als „Arschloch“ tit­uliert. Ihm und sein­er Partei schadet die flegel­haft-infan­tile Attitüde nicht, im Gegen­teil. Die achtziger Jahre wer­den zur Erfol­gsspur der Grü­nen, gestützt auf großstädtis­che, stu­den­tis­che Milieus und linke Sub­kul­turen und nicht zulet­zt dank der SPD, die den Wert der Öko-Partei als willkommene Mehrheits­beschaf­ferin schnell erken­nt und nutzt.

Erst die — vor allem für die poli­tis­che Linke — uner­wartete Wiedervere­ini­gung bremst den Vor­marsch. Die Grü­nen ver­mö­gen mit dem The­ma nichts anz­u­fan­gen. „Alle reden von Deutsch­land. Wir reden vom Kli­ma“, so plakatieren die West-Grü­nen bei der Bun­destagswahl 1990 und scheit­ern prompt an der Fünf­prozen­thürde. Es sind die Grü­nen in der bish­eri­gen DDR, die der Partei die par­la­men­tarische Exis­tenz sich­ern.

In den neun­ziger Jahren sor­gen maßge­blich Josch­ka Fis­ch­er und Jür­gen Trit­tin dafür, daß sich die Grü­nen endgültig zu ein­er „ganz nor­malen Partei“ wan­deln und zwis­chen 1998 und 2005 mit der SPD die Bun­desregierung stellen. Mit Win­fried Kretschmann, früher aktiv beim Kom­mu­nis­tis­chen Bund West­deutsch­land, stellen die Grü­nen in Baden-Würt­tem­berg seit 2011 erst­mals einen Min­is­ter­präsi­den­ten. Das ver­hin­dert nicht, daß sich die Grü­nen 2013 ein­er öffentlichen Debat­te darüber stellen müssen, wie die Partei in den achtziger Jahren zu Vertretern der Pädophilen­be­we­gung stand und wie ein­schlägige Äußerun­gen von promi­nen­ten Grü­nen-Vertretern wie Volk­er Beck und Daniel Cohn-Ben­dit zu bew­erten seien.

Einen ganz anderen Skan­dal hat die Partei zu diesem Zeit­punkt längst hin­ter sich gelassen. Drei Jahre nach­dem Josch­ka Fis­ch­er 1998 als Bun­de­saußen­min­is­ter und Vizekan­zler in ein­er rot-grü­nen Bun­desregierung den Marsch durch die Insti­tu­tio­nen vol­len­det hat, holt ihn seine Ver­gan­gen­heit als mut­maßlich­er Gewalt­täter inner­halb der Frank­furter Spon­ti-Szene der siebziger Jahre ein. Im Jan­u­ar 2001 veröf­fentlicht die Zeitschrift Stern Fotos, die ihr die Tochter von Ulrike Mein­hof und Klaus Rain­er Röhl, Bet­ti­na Röhl, zuge­spielt hat. Die Bilder zeigen den späteren Außen­min­is­ter und einige Mit­stre­it­er während ein­er Demon­stra­tion im April 1973 in Frank­furt am Main, bei der die Gruppe einen einzel­nen Polizeibeamten zusam­men­schlägt und auf den am Boden Liegen­den ein­tritt.

Bei der Demon­stra­tion in Frank­furt wurde ein Polizeifahrzeug von einem Brand­satz getrof­fen, ein 23jähriger Polizeibeamter schw­er ver­let­zt. Lange Zeit stand nicht fest, ob er angesichts sein­er schw­eren Brand­ver­let­zun­gen über­leben werde. Am Abend des­sel­ben Tages feierten Fis­ch­ers Genossen ihren Sieg auf dem Uni­ver­sitätscam­pus unter einem Trans­par­ent mit der flam­menden Auf­schrift: „Auch ein bren­nen­der Polizist ist eine Pro­pa­gan­da der Liebe!“ Fis­ch­er wird Jahrzehnte später im Stern erk­lären: “Ja, ich war mil­i­tant. Wir haben Häuser beset­zt, und wenn die geräumt wer­den soll­ten, haben wir uns gewehrt. Wir haben Steine gewor­fen. Wir wur­den ver­droschen, aber wir haben auch kräftig hin­ge­langt.”

Aber, so Fis­ch­er kurz darauf im Bun­destag: “1968 und das Fol­gende hat zu mehr Frei­heit und nicht zu weniger Frei­heit in diesem Lande geführt.” Darauf, daß mit der Form der Reak­tion der bis dahin anerkan­nte anti­to­tal­itäre Grund­kon­sens aufgekündigt wurde, ging Fis­ch­er nicht ein. Weitaus nach­haltiger als einzelne Gewal­texzesse wirken indes die gesellschaftlichen Verän­derun­gen, bei denen die Grü­nen weit­er­hin Hand anle­gen.

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Lit­er­atur:

  • Silke Mende: „Nicht rechts, nicht links, son­dern vorn“. Eine Geschichte der Grün­dungs­grü­nen, München 2011
  • Chris­t­ian Schmidt: Wir sind die Wahnsin­ni­gen. Josch­ka Fis­ch­er und seine Frank­furter Gang, München 1998
  • Edgar Wol­frum: Rot-Grün an der Macht. Deutsch­land 1998–2005, München 2013