1999 — Erster Kampfeinsatz der Bundeswehr

Krieg: Mehr als sechs Jahrzehnte war dieser Begriff aus dem Vok­ab­u­lar der aktiv­en deutschen Außen- und Sicher­heit­spoli­tik ver­ban­nt. Im Novem­ber 2009 ist es der Vertei­di­gungsmin­is­ter, der öffentlich Ver­ständ­nis für Sol­dat­en zeigt, die sagen: „In Afghanistan ist Krieg.“

Am 2. April 2010 wird der Min­is­ter auf schmer­zliche Weise bestätigt. Bei einem Schußwech­sel mit Tal­iban, der als „Kar­fre­itags­ge­fecht“ in Erin­nerung bleibt, find­en drei deutsche Fallschir­mjäger bei Kun­duz den Tod. Im Novem­ber 2010 heftet der Min­is­ter im Stauf­fen­bergsaal des Berlin­er Bendlerblocks mehreren Sol­dat­en die ersten Exem­plare der neuen „Ein­satzmedaille Gefecht“ ans Revers. Bere­its 2008 war mit der Stiftung des „Ehrenkreuzes für Tapfer­keit“ eine exk­lu­sive Ausze­ich­nung geschaf­fen wor­den, die der Eskala­tion in Afghanistan Rech­nung trug.

Das Gefecht in Isa Khal am Kar­fre­itag 2010 ist ein Wen­depunkt in der Geschichte der Bun­deswehr. Zwar sind die Toten nicht die ersten Sol­dat­en, die in ein­er Mis­sion der Bun­deswehr fall­en, doch die Pho­tos, auf denen siegre­iche Tal­iban-Kämpfer jubel­nd vor einem zer­schosse­nen deutschen Patrouil­len­fahrzeug posieren, haben den Afghanistan-Ein­satz der Bun­deswehr mit seinen zu Hochzeit­en knapp 5500 Sol­dat­en endgültig zu einem Krieg gemacht — und den Charak­ter der Bun­deswehr als Ein­satzarmee verän­dert.

Dabei waren Wand­lung­sprozesse für die Bun­deswehr seit Ende der Macht­blöcke des Kalten Krieges schon zur Gewohn­heit gewor­den. Nach der aufwendi­gen, doch beina­he laut­los vol­l­zo­ge­nen Inte­gra­tion der Nationalen Volk­sarmee der DDR fol­gen die ersten Ein­sätze in Kam­bod­scha und Soma­lia unter UN-Man­dat.

Daß Sol­dat­en der Bun­deswehr wenig später auch ohne Man­dat der Vere­in­ten Natio­nen außer­halb der NATO-Gren­zen einge­set­zt wer­den dür­fen, ermöglicht das soge­nan­nte „Out of area“- Urteil des Bun­desver­fas­sungs­gericht­es von 1994. Dieses Urteil spiegelt auch einen Par­a­dig­men­wech­sel der deutschen Poli­tik wider, der seit eini­gen Jahren zumin­d­est zwis­chen den Zeilen zu vernehmen ist. Nach dem Fall der Sow­je­tu­nion, dem zweit­en Golfkrieg, dem Sturz des soma­lis­chen Dik­ta­tors Siad Barre, den Bürg­erkriegen auf dem Balkan, aber auch auf­grund des poli­tis­chen Drucks der Ver­bün­de­ten läßt die deutsche Poli­tik einen Kur­swech­sel deut­lich erken­nen, auch wenn dieser lange unaus­ge­sprochen bleibt.

Das ändert sich schla­gar­tig im Früh­jahr 1999. Am 24. März jenes Jahres beteili­gen sich Flugzeuge der deutschen Luft­waffe auf Befehl der rot-grü­nen Koali­tion unter Bun­deskan­zler Ger­hard Schröder (SPD) und Außen­min­is­ter Joseph Fis­ch­er (Grüne) an den ersten Angrif­f­en ein­er drei­monati­gen Luftof­fen­sive gegen Ser­bi­en. Die Oper­a­tion Allied Force, der erste Kampfein­satz deutsch­er Stre­itkräfte nach dem Zweit­en Weltkrieg, begin­nt.

Mit der Inter­ven­tion soll die ser­bis­che Regierung dazu gezwun­gen wer­den, das mörderische Treiben ser­bis­ch­er Trup­pen im Koso­vo zu been­den. Die deutschen Min­is­ter Fis­ch­er und Rudolf Scharp­ing (Vertei­di­gung) legit­imieren die Angriffe der NATO mit dem soge­nan­nten Hufeisen­plan, anhand dessen die Ser­ben die plan­mäßige Aus­trei­bung der nicht­ser­bis­chen Bevölkerung aus dem Koso­vo betreiben wür­den. Allerd­ings wurde die Exis­tenz eines solchen mil­itärstrate­gis­chen Plans nie bewiesen, so daß der NATO-Angriff auf Rest-Jugoslaw­ien bis heute völk­er­rechtlich höchst umstrit­ten bleibt.

Der grüne Außen­min­is­ter muß sein­erzeit seine Klien­tel mit der moral­is­tis­chen Ulti­ma ratio überzeu­gen, der ser­bis­che Völk­er­mord an den Koso­vo-Albaner müsse ver­hin­dert wer­den, ein „zweites Auschwitz“ dürfe es nicht geben. Die Bun­desregierung argu­men­tiert in ihrem offiziellen Sprachge­brauch, bei der Oper­a­tion Allied Force gehe es darum, eine „human­itäre Katas­tro­phe“ und die damit ver­bun­de­nen Flüchtlingsströme zu ver­hin­dern. Bei den drei­monati­gen Luftan­grif­f­en wer­den min­destens 500 Zivilis­ten in Ser­bi­en getötet. Die Zahl der in den Bodenkämpfen von Ser­ben getöteten Albaner wird auf 10000 geschätzt. Hun­dert­tausende Koso­vo-Albaner und Ser­ben wer­den ver­trieben oder fliehen. Dör­fer, Häuser und Kul­turgüter wer­den von bei­den Seit­en bar­barisch zer­stört, ver­bran­nt oder mit ver­steck­ten Minen verse­hen.

Am Boden soll die KFOR (Koso­vo-Forces), 1999 von den Vere­in­ten Natio­nen einge­set­zt, mit mil­itärischen Mit­teln den Aus­bruch neuer Gewalt­tat­en im Koso­vo ver­hin­dern und das Land ent­mil­i­tarisieren. Mit dabei sind 2500 Sol­dat­en der Bun­deswehr. Ihr Auf­trag: Patrouil­len­fahrten, Aufk­lärung in Gren­zge­bi­eten, Fes­t­nahme von Krim­inellen, Schutz bedrängter Min­der­heit­en und gefährde­ter Kul­turgüter. Dieser Auf­trag ist auch 15 Jahre später nur durch Dauer­präsenz zu erfüllen. Unter der Decke ein­er ver­meintlichen Ord­nung blühen Kor­rup­tion und Krim­i­nal­ität. Die Arbeit­slosigkeit ist hoch, die Schat­ten­wirtschaft flo­ri­ert. Beson­ders gut läuft der Han­del mit Dro­gen, Waf­fen und Frauen. Und auch die Unab­hängigkeit­serk­lärung des Koso­vo im Jahr 2008 hil­ft dem Amselfeld wirtschaftlich wie poli­tisch nicht erkennbar weit­er.

Die Bun­deswehr indes erfährt durch Ein­sätze wie im Koso­vo und vor allem in Afghanistan (seit 2001) eine Verän­derung. Aus der Armee des Kalten Krieges, deren einziger Zweck ein (eher sym­bol­is­ch­er) Beitrag zur Abschreck­ung war, ist eine kämpfende Truppe mit einem neuen Selb­stver­ständ­nis gewor­den. Zugle­ich und allen Beteuerun­gen zum Trotz, Deutsch­land müsse „mehr Ver­ant­wor­tung übernehmen“, haben sich die Prämis­sen in der poli­tis­chen Land­schaft nur wenig verän­dert — abzule­sen etwa an dem Junk­tim, die eige­nen Stre­itkräfte auss­chließlich in multi­na­tionalen Koali­tio­nen einge­set­zt sehen zu wollen, weil die „Last der Geschichte“ einen drit­ten Weg zu ver­bauen scheint. Eben­so weisen den Deutschen weit­er­hin die Vere­inigten Staat­en und die anderen West­al­li­ierten die Rich­tung, was dazu führt, daß die Bun­deswehr in bes­timmten Krisen­re­gio­nen der Welt inter­ve­niert — und in anderen eben nicht.

Die „zukun­fts­gerichtete Gestal­tung der transat­lantis­chen Part­ner­schaft“, die „Pflege des Ver­hält­niss­es zu den USA“ und die „Stärkung der europäis­chen Inte­gra­tion“ nen­nt das Weißbuch von 2006 als wesentliche Ziele deutsch­er Sicher­heit­spoli­tik. Allerd­ings: Geri­et noch Bun­de­spräsi­dent Horst Köh­ler 2010 zum Außen­seit­er, als er — eher neben­bei — materielle Ziele deutsch­er Sicher­heit­spoli­tik wie geo­graphis­che Schw­er­punk­te und konkrete wirtschaftliche Inter­essen zum The­ma machte, so find­et sich in den „Vertei­di­gungspoli­tis­chen Richtlin­ien“ des Bun­desvertei­di­gungsmin­is­teri­ums aus dem Jahr 2011 u.a. der Anspruch, mit Hil­fe der Bun­deswehr auch „den freien Welthandel und den Zugang zu Ressourcen zu ermöglichen“.

Aber auch hier­bei ist Eigen­sicherung geboten, wie fol­gen­der Vor­gang zeigt: Ende Okto­ber 2010 rück­en deutsche Ein­heit­en gemein­sam mit Amerikan­ern, Bel­giern und Afgha­nen wieder nach Isa Khal vor und bergen das Wrack des gesprengten Din­gos, der dort nach dem Kar­fre­itags­ge­fecht zurück­ge­lassen wurde. Im Gedenken an die drei gefal­l­enen Kam­er­aden brin­gen die deutschen Sol­dat­en eine Zelt­bahn an, die mit den Worten beschriftet ist: „Treue um Treue — Nils Bruns, Robert Har­tert, Mar­tin Augusty­ni­ak“. Im Mai 2014 ver­bi­etet der Inspek­teur des Heeres die Ver­wen­dung des Wahlspruchs „Treue um Treue“ im dien­stlichen Umfeld „in jed­er Form“, weil er Assozi­a­tio­nen zu den Fallschir­mjägern der Wehrma­cht wecke. Der­weil legt das Ange­bot ein­schlägiger Devo­tion­alien­händler nahe, daß sich der Spruch zumin­d­est im pri­vat­en Bere­ich viel­er Heere­sange­höriger weit­er großer Beliebtheit erfreut.

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Lit­er­atur:

  • Sascha Brinkmann/Joachim Hoppe/Wolfgang Schröder: Feind­kon­takt. Gefechts­berichte aus Afghanistan, Ham­burg 2013
  • Achim Wohlgeth­an: Schwarzbuch Bun­deswehr. Über­fordert, demor­al­isiert, im Stich gelassen, Güter­sloh 2011
  • Sabine Würich/Ulrike Schef­fer: Oper­a­tion Heimkehr. Bun­deswehrsol­dat­en über ihr Leben nach dem Aus­land­sein­satz, Berlin 2014