Bis heute gilt Chlodwig als „Vater der französischen Nation“, und die Schlacht bei Zülpich als deren Erweckungserlebnis. Bis heute erinnern in Paris Straßennamen an die Ereignisse vor über 1500 Jahren: so etwa die kilometerlange Rue de Tolbiac (die französische Bezeichnung für Zülpich), unter der auch die Metrostation Tolbiac liegt. Ebenso ist die Zülpicher Brücke, Pont de Tolbiac, eine Verkehrsader der Hauptstadt. Auch Napoleon Bonaparte und sein Bischof Berdolet wußten um die Bedeutung Zülpichs für die Franzosen und schenkten 1811 der Stadt zwei Marmortafeln mit lateinischer Inschrift, die heute in der Krypta der Peterskirche aufbewahrt werden. Die Aufschriften nennen Zülpich, „berühmt durch Chlodwigs Sieg, der Franken Glück und des Reiches Wiege“.
Eine ähnliche Würdigung erfährt Chlodwig in der Walhalla, der Ruhmeshalle der Deutschen nahe Regensburg. Die zeitgenössische Sicht bei Entstehung der Walhalla identifizierte das Königtum Chlodwigs mit der Vollendung der germanischen Landnahme in Frankreich. In auffallender Zurückhaltung übt sich indes die deutsche Historiographie in der Bundesrepublik. Geradezu erleichtert zeigte sich die deutsche Öffentlichkeit, als der französische Botschafter Franois Scheer die Chlodwig-Ausstellung in Zülpich 1996 mit den Worten eröffnete, es sei nicht übertrieben, Chlodwig als den „ersten Europäer“ zu bezeichnen.
Doch nicht nur in Deutschland fand die Charakterisierung des Frankenkönigs als europäische Integrationsfigur Zustimmung. So herrscht durchaus zu beiden Seiten des Rheins — und sei es als kleinster gemeinsamer Nenner — die Auffassung vor, daß die Gründung des fränkischen Großreichs zum Grundstein des Abendlandes wurde: charakterisiert durch antikes Erbe, christliche Prägung und lateinische Formung.
Lange galt das Frankenreich, im sechsten und siebenten Jahrhundert von Erbstreitigkeiten und Familienzwist innerlich zerrissen, erst mit der Herrschaft der Karolinger als „salonfähig“. Neuere archäologische Funde in Frankreich belegen jedoch, daß die Franken bereits unter den Merowingern eine wichtige Mittlerrolle zwischen Antike und Mittelalter spielten, zumal sie sich selbst aus vielen kleinen Völkern zusammensetzten. Sie wollten das ihnen „zugefallene“ Reich bewahren und überlieferten u.a. das antike Rechts- und Verwaltungssystem.
Chlodwig, als Sohn des Childerich im Jahr 481 in das Geschlecht der Merowinger hineingeboren, hatte bis zur Schlacht bei Zülpich das fränkische Reich durch die Eroberung des römisch gebliebenen Teils Galliens sowie eines großen Teils Alemanniens und Aquitaniens so weit ausgedehnt, daß es schließlich vom Main bis zur Garonne reichte. Im Jahr 508 machte Chlodwig dann die römische Siedlung Paris zur Hauptstadt seines fränkischen Einheitsreiches.
Als erster deutscher König trat Chlodwig zum katholischen Christentum über und ließ sich — wohl an Heiligabend 497 — durch Bischof Remigius in Reims taufen. Das exakte Jahr dieses Ereignisses ist in der Forschung umstritten, auch das Folgejahr wird immer wieder genannt. Unstrittig hingegen ist, daß mit der Taufe Chlodwigs der „Bund zwischen Thron und Altar“ geschlossen war. Bewerten die Franzosen die Schlacht bei Zülpich als Erweckung der „Grande Nation“, so gilt ihnen die Taufe Chlodwigs gleichsam als deren Geburt.
In Vergessenheit mag dabei geraten, daß bei konsequenter Betrachtung der geographischen Ausdehnung des Frankenreiches den Franzosen somit ein „Zwillingsbruder“ geboren worden war. Denn auch im rechtsrheinischen Teil seines Reiches ließ Chlodwig die Ausbreitung des Christentums im germanischen Volke fördern und ebnete dem christlichen Glauben in Deutschland ebenso den Weg wie dem römischen Papsttum das Tor zur späteren Reichskirche des Mittelalters. Zugute kam ihm dabei, daß man im Frankenreich weit entfernt war von der überlegenen byzantinischen Macht, die den Vandalen in Afrika und den Ostgoten in Italien die Grenzen aufzeigte.
Auch ermöglichte der König der fränkischen Adelsschicht die schnelle Symbiose mit den römischen Eliten und ihrer bestehenden Infrastruktur, welche gerade in Gallien als einem Herzland des einstigen Weltreichs überlebt hatten. Zahlreiche Angehörige der alten römischen Führungsschicht sahen Chlodwig als legitimen Nachfolger der Cäsaren an und wuchsen mit dessen Gefolgschaft zu einem neuen Dienstadel zusammen, der später im fränkischen Lehnsstaat neue Bedeutung erlangte.
Damit schuf er einen ideellen Ausgleich zwischen der germanischen und der unterworfenen romanischen Bevölkerung, was ihn in der Wahl der Mittel ausdrücklich vom Ostgotenkönig Theoderich unterscheidet, der eher eine politische, soziale und religiöse Trennung beider Bevölkerungsteile betrieb und zudem, wie auch andere ostgermanische Stämme, dem Arianismus anhing, für den Christus Gott wesensähnlich, aber nicht wesensgleich war. Und nicht zuletzt schuf Chlodwig auf diese Weise eine wesentliche Voraussetzung für die zukunftsweisende Verbindung von Antike, Christentum und Germanentum und für die — auch biologische — Verschmelzung von Germanen und Romanen.
Und wem „gehört“ nun Chlodwig? Der Historiker Karl-Ferdinand Werner arbeitet in seinen Veröffentlichungen heraus, daß es im Zusammenhang mit der Schaffung der Reichseinheit sowohl auf seiten französischer wie auch auf seiten deutscher Historiker eine irrige Annahme gibt: So sei weder Gallien von „den Franken erobert“ worden, noch treffe umgekehrt die französische Auffassung zu, der Osten Galliens und die Gebiete östlich des Rheins seien von „den Franken“ erobert worden. Vielmehr — so Werner — sei das Frankenreich von Anfang an auf einem Dualismus begründet gewesen, der wiederum auf den beiden wesentlichen Reichsteilen beruhte. Demnach habe es nur einen Garanten des gemeinsamen „regnum francorum“ gegeben: das Königshaus Chlodwigs.
Literatur:
- Matthias Becher: Merowinger und Karolinger, Darmstadt 2009
- Matthias Becher: Chlodwig I. Der Aufstieg der Merowinger und das Ende der antiken Welt, München 2011
- Karl-Ferdinand Werner: Die Ursprünge Frankreichs bis zum Jahr 1000, Stuttgart 1989