782 — Karl der Große hält Blutgericht in Verden

Karl der Große war zweifel­los ein­er der bedeu­tend­sten Herrsch­er der europäis­chen respek­tive der Welt­geschichte. Der König der Franken, ab 800 gar römis­ch­er Kaiser, ver­fol­gte eine kon­se­quente Poli­tik der Stärkung des Reich­es. Unter sein­er ägide wurde so etwas wie eine effek­tive Ver­wal­tung geschaf­fen. Er galt als Förder­er von geistigem und kul­turellem Leben.

Aber Karl der Große führte auch Kriege und Straf­ex­pe­di­tio­nen durch, um die Gren­zen des fränkischen Macht­bere­ichs auszuweit­en und zu sich­ern. Mit Vehe­menz bekämpfte er schon ab 772 die hei­d­nis­chen Sach­sen, deren Sied­lungs­ge­bi­et im Nor­dosten an das der Franken anschloß. Mit dem Ziel der christlichen Mis­sion­ierung unter­warf er in einem etwa dreißigjähri­gen Rin­gen diesen wider­spen­sti­gen Stamm. Ins his­torische Gedächt­nis der Deutschen hat sich dabei das Jahr 782 gebran­nt, als es in Ver­den an der Aller zu einem ein­schnei­den­den Ereig­nis kam.

Bei der Ver­fol­gung hei­d­nisch-säch­sis­ch­er Kämpfer, die sich — anders als zu jen­em Zeit­punkt bere­its das Gros der Sach­sen — nicht unter fränkische Vorherrschaft stellen woll­ten, kam es bere­its in den Vor­jahren zu mehreren Mas­sak­ern und Ver­nich­tun­gen von Haus, Hof und Ernte der Wider­ständler. Karl der Große glaubte, er müsse mit aller Gewalt ein für alle­mal die kriegerische Auflehnung der Sach­sen brechen.

Aus diesem Grund plante er eine List. Er ließ die säch­sis­chen Anführer nach Ver­den rufen, wo eine Großver­samm­lung die Rädels­führer der Auf­stände benen­nen sollte. Die adlige Schicht der Sach­sen kol­la­bori­erte bei der Suche nach den Häuptern der Unruhen bere­itwillig mit dem Frankenkönig: Ein­er­seits wußten sie, daß sie sich nicht dauer­haft dem mächti­gen Rivalen erwehren kön­nten; ander­er­seits woll­ten sie — mit Hil­fe Karls — ihre dom­i­nante Stel­lung in der inner­säch­sis­chen Hier­ar­chie wahren, um weit­er­hin ihrer Priv­i­legien sich­er zu sein. Karl der Große selb­st, und das ist der dritte Aspekt der Kol­lab­o­ra­tion, bedurfte der säch­sis­chen Führungss­chicht, um seine Ver­wal­tung effek­tiv vor Ort gestal­ten zu kön­nen — und zwar nach Möglichkeit auch ohne eigene Dauer­präsenz.

Die säch­sis­che Ober­schicht ver­ri­et also die Insur­gen­ten und lieferte sie den Franken aus. Karl der Große, dessen Geduld nach Jahren von Intri­gen, gebroch­enen Schwüren und Über­fällen seit­ens der säch­sis­chen Hei­den aufge­braucht war, ver­sam­melte die Arretierten samt Frauen und Kindern. Karl ließ sie einen nach dem anderen köpfen: Es war ein für die dama­lige Zeit beispiel­los­es Mas­sak­er, das auch Karls eigen­em christlichen Empfind­en nach als ein bru­tales Ver­brechen ange­se­hen wer­den mußte.

Über die Opfer­zahlen beste­hen keine Gewißheit­en. Häu­fig begeg­net man der Zahl von 4500 Ermorde­ten. Dies wird auf­grund der Dauer der Hin­rich­tun­gen — alles geschah an einem einzi­gen Tag — von ver­schiede­nen Seit­en mit guten Grün­den angezweifelt. Ohne Frage waren aber für die dama­lige Zeit exor­bi­tant viele Opfer zu bekla­gen. Der Krieg war damit freilich nicht been­det: Es fol­gten noch mehrere Feldzüge, bis das Rück­grat der Auf­ständis­chen endgültig gebrochen war, denn nach dem Blut­gericht von Ver­den kämpften die Sach­sen um ihren Helden Widukind fanatis­ch­er und ver­bis­sener weit­er, bevor sie schließlich um 804 vor­erst gän­zlich unter­wor­fen wur­den.

Die Ermor­dung von mehreren tausend hei­d­nis­chen Sach­sen in Ver­den 782 auf Geheiß Karls des Großen ist — mehr noch als die sym­bol­is­che Fäl­lung der Donare­iche 723 durch Boni­fatius — bis heute eine Zäsur der deutschen Geschichte auf dem Weg zur endgülti­gen Chris­tian­isierung aller ger­man­is­chen Volksstämme; ein­er Chris­tian­isierung, die sich über­wiegend ohne ver­gle­ich­bare Geschehnisse wie in Ver­den vol­l­zog. Im his­torischen Gedächt­nis der Deutschen spielte das Blut­gericht erst spät eine Rolle. Zwar wurde die Begeben­heit in den Reich­san­nalen des karolingis­chen Reich­es über­liefert, ihre Bedeu­tung blieb aber wis­senschaftlich umstrit­ten. Her­mann Löns dichtete 1912 nach Art eines Bänkel­liedes (Die rote Beeke) das Geschehen in ein Fanal zur Rache um: König Karl „denkt, es ist Ruhe im Lande. Aber er vergißt Wek­ing und das Lied, das unter  jedem Stro­hdache gesummt wird, das Lied vom aisken Schlächter und von der roten Beeke“.

Die Nation­al­sozial­is­ten wei­ht­en 1935 in Ver­den den „Sach­sen­hain“, einen von Fin­d­lin­gen (geplant waren 4500) gesäumten Rundweg mit Thing­platz, ein. Die poli­tis­che Nutzung des Sach­sen­mords erwies sich allerd­ings als schwierig, weil Karl der Große nicht den Fran­zosen über­lassen wer­den sollte und klar war, daß sich Karl nicht auf den Sach­sen­schlächter reduzieren ließ. Als Vater Europas, als verbindende Kraft des antiken Erbes mit der christlichen Reli­gion, als zivil­isatorisch­er und poli­tis­ch­er Erneuer­er wird Karl der Große heute gle­icher­maßen in Frankre­ich wie in Deutsch­land verehrt. Das Blut­gericht von Ver­den an der Aller fällt dabei kaum ins Gewicht, wen­ngle­ich sich damals der deutsche Selb­st­be­haup­tungswille als Opfer­gang man­i­festierte.

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Lit­er­atur:

  • Alessan­dro Bar­bero: Karl der Große. Vater Europas, Stuttgart 2007
  • Cas­par Ehlers: Die Inte­gra­tion Sach­sens in das fränkische Reich (751‑1024), Göt­tin­gen 2007
  • Wolf­gang Wieder: Karl der Große. Der Schöpfer Europas — Biogra­phie, Beltheim-Schnell­bach 2014