Die Germania des römischen Geschichtsschreibers Publius Cornelius Tacitus (ca. 58–120 n. Chr.) aus dem Jahr 98 n. Chr. ist die wichtigste Quelle über die Vorfahren der Deutschen, die Germanen. Sie enthält eine konzentrierte Beschreibung ihrer Kultur, ihres Charakters und ihrer Gewohnheiten.
Falls Tacitus, wie vielfach angenommen wird, der Sohn des bei Plinius genannten Cornelius Tacitus, des Prokurators der Provinz Gallia Belgica mit Sitz in Trier, war, dürfte er seine Jugend im germanischen Grenzgebiet verbracht haben. Außer aus eigenen Beobachtungen schöpfte Tacitus aus den Berichten von Händlern und Soldaten, die die Germanen gut kannten. Zu seinen Quellen gehörten außerdem die verlorenen 20 Bücher über die Germanenkriege Plinius des Älteren (23/24–79 n. Chr.), der als Offizier in Germanien gedient hatte und daher wußte, wovon er schrieb.
Als erster hatte Cäsar erkannt, daß es sich bei Kelten und Germanen um zwei verschiedene Völker handelte. Die modische Behauptung mancher Historiker, die Germanen seien keine ethnische Einheit, sondern nur ein imaginäres Konstrukt römischer Autoren gewesen, läßt sich leicht widerlegen. Es gibt seit dem späten Neolithikum in Südskandinavien und Norddeutschland ein archäologisch faßbares, kulturelles, linguistisches und anthropologisches Kontinuum, das nur als ethnische Gemeinschaft interpretiert werden kann. Es gab auch ein Gefühl der Gemeinsamkeit, das z.B. in den vielen gemeinsamen Heldensagen zum Ausdruck kam, ebenso wie in der gemeinsamen Abgrenzung von anderen, fremden Völkern.
So nannten die Germanen ihre keltischen, später romanisch sprechenden Nachbarn im Westen und Süden Volcae (Welsche), ihre östlichen, slawischen Nachbarn Venetae (Wenden) und ihre nördlichen, noch als Wildbeuter lebenden Nachbarn Finnen. Von dem im Osten Germaniens siedelnden Stamm der Bastarnen — der Name bedeutet soviel wie “Bastarde” — hieß es, er habe durch Mischehen mit den nichtgermanischen Sarmaten deren häßliches Aussehen angenommen. Richtig ist allerdings, daß die Germanen sich selbst nicht so nannten, sondern daß dies, wie Tacitus berichtet, der Name eines kleineren Stammes im Westen ihres Siedlungsgebietes war, der von den Römern auf alle Germanen übertragen wurde.
Die mit den Römern in Kontakt stehenden Germanen übernahmen diesen Namen, wie die Grabinschriften der germanischen Leibwächter der römischen Kaiser bezeugen, die man in Rom fand; er setzte sich jedoch im eigentlichen Germanien nicht durch. Dafür ist die erst seit dem 4. Jahrhundert n. Chr. (in Wulfilas Bibelübersetzung) belegte Selbstbezeichnung thiodisk (deutsch) nach sprachwissenschaftlicher Auffassung wahrscheinlich schon wesentlich älter. Sie war bis ins frühe Mittelalter hinein für alle germanischen Völker in Gebrauch, nicht nur für die späteren Deutschen.
Die Germanen galten den antiken Schriftstellern als noch hochwüchsiger, blonder und wilder als die Kelten. Tacitus betont die kriegerische Haltung der Germanen. Mit Schweiß verdienen, was man mit Blut erwerben kann, gelte ihnen als Feigheit und Faulheit. Daneben betont er ihre hohe Wertschätzung der persönlichen Freiheit: “Die Germanen lassen sich nichts befehlen, sich nicht regieren, sondern tun alles nach ihrer Willkür”, schreibt Tacitus in seinen Historien. Sie wählten ihre Könige aus dem Hochadel und die Heerführer nach deren Tüchtigkeit. Als höchste Tugend gelte den Germanen die Treue, womit die Treue von Person zu Person gemeint sei, auf der auch die politische Gefolgschaftstreue beruhe. Hinsichtlich der geschlechtlichen Moral hätten sie ein natürlich-ungezwungenes, dennoch von keuscher Enthaltsamkeit gegenüber dem anderen Geschlecht bestimmtes Verhalten. Von anderen Völkern unterschieden sich die Germanen durch ihre Wertschätzung der Einehe und den Respekt, den sie den Frauen entgegenbrächten.
Sie glaubten, so schreibt Tacitus, die Frauen stünden den Göttern näher, ihnen wohne “etwas Heiliges und Prophetisches” inne. Mit den anderen Barbaren hätten die Germanen ihre Neigung zur Eß- und Saufgelagen gemeinsam. Tag und Nacht zu durchzechen sei bei ihnen keine Schande. In der Germania findet sich auch ein erster Hinweis auf das ruhige Temperament der Nordeuropäer, wenn Tacitus die Chauken an der Nordseeküste als ohne Unbeherrschtheit, ruhig und zurückgezogen beschreibt, und von den Mattiakern im Rheingau sagt, sie glichen den Batavern in den Niederlanden, nur daß sie mit größerer Lebhaftigkeit begabt seien. Andere Autoren ergänzten das Bild der Germanen, das Tacitus entworfen hatte. In der Völkerwanderungszeit bestätigte der Kirchenvater Salvian die Zurückhaltung der Germanen gegenüber den Frauen der besiegten Römer.
Mit der Germania sind viele Züge des deutschen Volkscharakters schon früh dokumentiert. Das Bild der Deutschen im Mittelalter, als die Germania längst in Vergessenheit geraten war, stimmte in vielem mit dem des Tacitus überein. Die Deutschen galten ihren Nachbarn als roh und unverdorben, als tapfere Krieger, ehrlich und gutmütig. Ihr Hauptlaster sei die Trunksucht. Zu den bisher genannten Eigenschaften kamen nun ihr Fleiß und ihr Ordnungssinn hinzu. Der Italiener Petrarca, der 1333 Deutschland bereiste, rühmte die Sicherheit auf den deutschen Straßen und die Unbestechlichkeit der deutschen Rechtsprechung. Den italienischen Reisenden des späten Mittelalters fiel außerdem auf, daß das Verhältnis der Geschlechter in Deutschland freier war als in den romanischen Ländern. Studenten durften sich mit Frauen unterhalten, die Mädchen suchten sich ihre Ehepartner ohne Wissen der Eltern selber aus, und überhaupt blieben die Frauen nicht bei ihren Aufgaben, sondern wollten es den Männern gleichtun.
Schon im Spätmittelalter waren die Deutschen in ganz Europa für ihr technisches Geschick und ihre Erfindungsgabe berühmt. Ergänzt wurde das Bild von den Eigenschaften der Deutschen dann noch durch die Innerlichkeit, die Neigung zur Innenschau, zum Gefühl und zum Nachdenken, die zuerst im Minnesang und in der mittelalterlichen deutschen Mystik, später im Pietismus und der Romantik ihren Ausdruck fand. Im Mittelalter geriet die Germania des Tacitus wie so viele antike Texte in Vergessenheit. Nur eine einzige Abschrift überdauerte im Kloster Hersfeld bei Fulda. 1470 erschien die wiederentdeckte Germania in Venedig im Druck, 1474 auch in Nürnberg. In Deutschland wurde sie vor allem durch die Vorlesungen bekannt, die der Humanist Konrad Celtes ab 1497 in Wien hielt. Die deutschen Humanisten waren begeistert von der wohlwollenden Schilderung ihrer Vorfahren aus der Feder des Tacitus. In der Reformationszeit, in der die Deutschen gegen die Auswüchse der römischen Kirche aufbegehrten, erkannten sie sich in Tacitus’ Beschreibung der zwar rohen, aber unverdorbenen Germanen wieder. Von nun an wurde die Germania zu einem festen Bestandteil der nationalen Identität der Deutschen und beeinflußte das nationale Selbstverständnis bis zur Gegenwart in nicht geringem Maße.
Literatur:
- Cornelius Tacitus: Agricola Germania. Lateinisch und deutsch, Düsseldorf 2001
- Andreas Vonderach: Völkerpsychologie. Was uns unterscheidet, Schnellroda 2014