Das Hildebrandslied ist nicht der älteste Text deutscher, also althochdeutscher Sprache, diese Bedeutung kommen den germanisch-heidnischen Merseburger Zaubersprüchen (um 750) bzw. dem Wörterverzeichnis des Codex Abrogans (um 760) zu. Gleichwohl nimmt das Hildebrandslied in den Anfängen der deutschen Literatur eine besondere Stellung ein, da es sich um das älteste, einzig erhaltene deutsche Heldenlied handelt und somit, anders als die Zaubersprüche, ein erzählender Text ist.
Um 830 wurde das Hildebrandslied im Kloster Fulda aufgezeichnet. Zwei Mönche verwendeten die leeren Umschlagseiten einer Pergamenthandschrift mit biblischem Inhalt, um das Lied niederzuschreiben. „Leider“, so Francis G. Gentry, „haben die Mönche nur so viel geschrieben, wie auf die beiden Seiten paßte; das Ende des Liedes fehlt also.“ Die erste wissenschaftliche Edition stammt von den Brüdern Grimm, sie gaben das Lied zusammen mit dem Wessobrunner Gebet heraus (Kassel 1812).
Der schriftlichen Fixierung ist eine mündliche, über Bayern nach Norden gedrungene Überlieferung vorausgegangen, deren stofflicher Ursprung bis in die Zeit der Völkerwanderung zurückreicht und sich auf den Machtkampf zwischen Odoaker und Theoderich bezieht. 476 hatte Odoaker, als militärischer Anführer der eigentlich mit Rom verbündeten Truppen, Romulus, den letzten weströmischen Kaiser, abgesetzt, um die Herrschaft über das verbliebene Reich anzutreten; der ostgotische König Theoderich eroberte, im Bündnis mit Byzanz, in mehreren Schlachten Italien, belagerte Ravenna und tötete Odoaker 493.
Die Ereignisse haben ihren literarischen Widerhall in der Dietrichsage (Dietrich = Theoderich) gefunden, wobei die historischen Fakten recht frei gehandhabt wurden. Aus diesem mündlichen Sagenumfeld heraus entstand als erste schriftliche Fixierung das Hildebrandslied, in dem sich die beiden Krieger Hildebrand und Hadubrand, Vater und Sohn, unvermittelt gegenüberstehen; der eine kämpft auf seiten Dietrichs, der andere kämpft hingegen für Odoaker. Als Hadubrand, der seinen Vater jedoch für tot hält, seinem Kontrahenten List und Feigheit unterstellt, nimmt die Tragik ihren Lauf: Entweder muß Hildebrand sich feige nennen lassen oder aber gegen das eigene Kind kämpfen. Auch wenn der Liedschluß fehlt, legt eine zweite Überlieferung des Stoffs nahe, daß Hildebrand seinen Sohn im Zweikampf tötet. Im Schicksal des Helden drückt sich damit eine traditionelle germanische Ehrauffassung aus.
Die Figur des Hildebrand erscheint rund vierhundert Jahre später erneut an prominenter Stelle in der deutschen Literaturgeschichte, im Nibelungenlied. Wiederum eng verbunden mit Dietrich von Bern, als dessen Waffenmeister, repräsentiert Hildebrand auch hier die traditionelle Ordnung. Nachdem Kriemhild den Tod ihres Mannes Siegfried gerächt und dessen Mörder Hagen von Tronje enthauptet hat, Hagen also „von der Hand einer Frau“ gestorben ist, erschlägt Hildebrand nun seinerseits Kriemhild — denn „es soll ihr nicht durchgehen, daß sie es wagte, den Helden zu erschlagen“ (wie es in der Übertragung von Helmut Brackert heißt).
Das spätmittelalterliche sogenannte Jüngere Hildebrandslied, als Text seit dem späten 15. Jahrhundert präsent, belegt die nachhaltige Wirkung der Dietrichsage. Der tragisch-tödliche Kampf zwischen Hildebrand und seinem Sohn bleibt in dieser Adaption des alten Heldenstoffs jedoch aus, statt dessen versöhnen sich die beiden. Die Volksballade fand schließlich Eingang in die von Clemens Brentano und Achim von Arnim herausgegebene romantische Liedersammlung Des Knaben Wunderhorn (1805–08).
– — –
Literatur:
- Franz H. Bäuml: Mittelalter, in: Geschichte der deutschen Literatur., hrsg. von Ehrhard Bahr, Bd. 1, Tübingen 1987, S. 1–244
- Rolf Bergmann (Hrsg.): Althochdeutsche und altsächsische Literatur, Berlin/Boston 2013
- Francis G. Gentry: Von der karolingischen Kulturreform bis zur Rezeption der höfischen Literatur Frankreichs, in: Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte, hrsg. v. Horst Albert Glaser, Bd. 1, Reinbek bei Hamburg 1988, S. 46–83
- Siegfried Gutenbrunner: Von Hildebrand und Hadubrand. Lied — Sage — Mythos, Heidelberg 1976