Gasset, José Ortega y, Philosoph, 1883- 1955

Der spanis­che Philosoph Orte­ga y Gas­set, am 9. Mai 1883 in Madrid geboren, ist in Deutsch­land vor allem mit seinem moder­nität­skri­tis­chen Werk Auf­s­tand der Massen (1930) sowie seinen kun­stkri­tis­chen Essays unter dem Titel Die Vertrei­bung des Men­schen aus der Kun­st (1925) bekan­nt gewor­den. Den größten Erfolg hat­te zweifel­los das auch in Deutsch­land in sehr hohen Aufla­gen ver­bre­it­ete Buch Der Auf­s­tand der Massen, das eine umfassende, wenn auch idiosynkratis­che Kri­tik der Mas­sen­ge­sellschaft vortrug.

Aber auch eine ganze Rei­he ander­er gehaltvoller Schriften, so etwa zu Arnold Toyn­bees Geschichts­deu­tung (Eine Inter­pre­ta­tion der Welt­geschichte, 1960), wur­den in deutsch­er Über­set­zung her­aus­ge­bracht; sie spie­len im heuti­gen akademis­chen Diskurs keine Rolle mehr, ohne daß damit schon ein gültiges Unwer­turteil aus­ge­sprochen wäre. Dabei gehörte Orte­ga y Gas­set – ähn­lich wie in ganz anderem Kon­text Josef Pieper oder Karl Jaspers – zu den schrift­stel­lerisch erfol­gre­ich­sten Philosophen sein­er Zeit. Orte­ga gelangte zwar 1910 auf den Madrid­er Lehrstuhl für Meta­physik, kul­tivierte aber auch eine Posi­tion, die man als gegen das akademis­che Estab­lish­ment gerichtet ver­ste­hen kon­nte.

Orte­ga reflek­tierte inten­siv Spaniens Beziehung zu Europa und ins­beson­dere Deutsch­land, mit dessen philosophis­chen Denken er vor allem in Form des Neukan­tian­is­mus (Paul Natorp, Her­mann Cohen) sowie der Kul­tur­philoso­phie Georg Sim­mels in engere Berührung kam. Auch die Phänom­e­nolo­gie Husserls wurde für Orte­ga method­isch weg­weisend; mit Wil­helm Dilthey dage­gen set­zte er sich erst seit den späten 1920er Jahren auseinan­der. Orte­gas Denken gehört selb­st in den weit­em Rah­men der Leben­sphiloso­phie, doch war er kein sys­tem­a­tis­ch­er Philosoph, son­dern knüpfte seine Gedanken okka­sionell an schein­bar willkür­liche Beobach­tun­gen (z. B. Ästhetik in der Straßen­bahn, 1987).

Schon mit seinem ersten philosophis­chen Buch von 1914, den Med­i­ta­tio­nen über Don Qui­jote rei­ht er sich unter jene Denker ein, die sich an einem „unaufhör­lichen Rin­gen gegen den Utopis­mus“ beteili­gen. In Cer­vantes’ Don Qui­jote sah er den par­a­dig­ma­tis­chen Men­schen mit seinem utopis­chen Drang. Orte­ga wen­det sich von den Extrem­po­si­tio­nen sein­er Zeit ab und wird in sein­er Vertei­di­gung des Wertes des Einzel­nen ein „Her­aus­forder­er der deutschen Ide­al­is­ten und Mate­ri­al­is­ten“ (Nie­der­may­er). Orte­ga selb­st ver­ab­schiedet jedoch die Meta­physik keineswegs. Die Anthro­polo­gie Orte­gas ist stark von seinem erken­nt­nis­the­o­retis­chen Per­spek­tivis­mus geprägt; sein berühmter Satz „Ich bin ich und meine Lebenssi­t­u­a­tion“ bindet die Iden­tität des Einzel­nen an sein jew­eils konkret gelebtes Dasein.

Für Orte­ga liegt das Wesen des Men­schen let­ztlich in der Ungewißheit und Unsicher­heit, da er das Leben von Anfang als Schiff­bruch ver­ste­ht. Nur die Unsicher­heit sei sich­er, woraus Orte­ga den Schluß zieht, daß sich der Men­sch auch der Möglichkeit eines total­en Bruchs mit der Men­schlichkeit bewußt sein müsse, eines Rück­falls in die bloße Ani­mal­ität.

Das tragis­che Bewußt­sein dieser Möglichkeit ist die Voraus­set­zung der Kul­tur. Orte­ga stand der Idee eines notwendi­gen Fortschritts kri­tisch gegenüber; denn sie bedeutete die Auf­gabe jed­er Ver­ant­wor­tung und zugle­ich die Ein­schläfer­ung der nöti­gen Wach­samkeit. Indem Orte­ga die Unsicher­heit des Men­schen her­vorhebt, gren­zt er ihn vom Tier ab, dessen Wesen in der Anpas­sung liegt. Daraus resul­tiert Orte­gas Bes­tim­mung des Men­sch­seins als wesens­mäßiger Unangepaßtheit: “Der Men­sch ist, wo er auch immer ist, ein Fremder.”

Orte­gas Schar­fes Bewußt­sein für Phänomene der Dekadenz bedeutete nicht, daß er einem unzuläs­si­gen Pes­simis­mus gehuldigt hätte. Auch wenn er in seinem berühmten Münch­n­er Vor­trag „Gibt es ein europäis­ches Kul­turbe­wußt­sein?“ von 1953 zuge­s­tand, „daß unsere Zivil­i­sa­tion prob­lema­tisch gewor­den ist, daß alle ihre Prinzip­i­en ohne Aus­nahme fraglich erscheinen“, sah er doch darin kein Zeichen der Ago­nie, son­dern ein Symp­tom für das Wer­den ein­er neuen europäis­chen Zivil­i­sa­tion. Peri­odis­che Krisen seien ger­adezu eine Eigen­heit der europäis­chen Kul­tur, worin Orte­ga ihre spez­i­fis­che Offen­heit erblick­te, da sie im Gegen­satz zu anderen geschichtlichen Kul­turen keine „kristallisierte Kul­tur“ ist.

Der Philosoph starb am 18. Okto­ber 1955 in Madrid.

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Zitat:

Die europäis­che Zivil­i­sa­tion zweifelt ern­stlich an sich selb­st. Wir kön­nen uns grat­ulieren, daß es so ist. Ich kann mich nicht erin­nern, daß irgen­deine Zivil­i­sa­tion an einem Anfall von Zweifeln zugrunde gegan­gen wäre. Ich glaube mich vielmehr zu entsin­nen, daß Zivil­i­sa­tio­nen an ein­er Ver­steinerung ihrer Glauben­stra­di­tion und ein­er Arte­rien­verkalkung ihres Glaubensin­haltes zugrunde gegan­gen sind.

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Schriften:

  • Gesam­melte Werke in sechs Bän­den, Stuttgart 1978
  • Der Auf­s­tand der Massen, Stuttgart 1930
  • Über die Liebe. Med­i­ta­tio­nen, Stuttgart 1933
  • Geschichte als Sys­tem und Über das römis­che Imperi­um, Stuttgart 1943
  • Gibt es ein europäis­ches Kul­turbe­wußt­sein?, Stuttgart 1954
  • Über die Jagd, Ham­burg 1957
  • Der Men­sch und die Leute, Stuttgart 1957
  • Eine Inter­pre­ta­tion der Welt­geschichte. Rund um Toyn­bee, München 1964
  • Med­i­ta­tio­nen über ‘Don Qui­jote’, Stuttgart 1964
  • Die Vertrei­bung des Men­schen aus der Kun­st, München 1964
  • Ästhetik in der Straßen­bahn. Essays, Berlin 1987
  • Der Schreck­en des Jahres ein­tausend. Kri­tik an ein­er Leg­ende, Leipzig 1992
  • Vom Men­schen als utopis­chem Wesen. Vier Essays, Wien 2005
  • Der Men­sch ist ein Fremder. Schriften zur Meta­physik und Leben­sphiloso­phie, Freiburg/Br. 2008

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Lit­er­atur:

  • Ivo Höll­hu­ber: Geschichte der Philoso­phie im spanis­chen Kul­turbere­ich, München-Basel 1967
  • Frauke Jung-Lin­de­mann: Zur Rezep­tion des Werkes von José Orte­ga y Gas­set in den deutschsprachi­gen Län­dern. Unter beson­der­er Berück­sich­ti­gung des Ver­hält­niss­es von philosophis­ch­er und pop­ulär­er Rezep­tion in Deutsch­land nach 1945, Frank­furt a.M. 2001
  • Julián Marías: José Orte­ga y Gas­set und die Idee der lebendi­gen Ver­nun­ft. Eine Ein­führung in seine Philoso­phie, Stuttgart 1952
  • Franz Nie­der­may­er: Orte­ga y Gas­set, Berlin 1959