Der Aufstand der Massen — José Ortega y Gasset, 1929

Die erste Hälfte des 20. Jahrhun­derts als ein Massen­zeital­ter zu erken­nen, war für die europäis­chen Intellek­tuellen dieser Zeit kein Prob­lem. Zu deut­lich hat­ten sich die Auswirkun­gen von Indus­tri­al­isierung und Bevölkerungsver­mehrung über­all niedergeschla­gen. Dem spanis­chen Philosophen José Orte­ga y Gas­set gelang jedoch mehr als die einge­hende Analyse der neu auf­tauchen­den Massenor­gan­i­sa­tio­nen.

Sein Werk Der Auf­s­tand der Massen set­zte eine wichtige Akzentver­schiebung, indem es das Phänomen der Masse nicht allein in der »Tat­sache der Über­fül­lung« sucht, son­dern den gle­ichgülti­gen Durch­schnitts­men­schen ins Auge faßt.

Orte­ga y Gas­set, stark durch Friedrich Niet­zsche und die Psy­cho­analyse Sig­mund Freuds geprägt, denkt die Ansätze der Massenpsy­cholo­gie und ‑sozi­olo­gie von Gus­tave le Bon und Robert Michels kon­se­quent weit­er und wen­det sie auf das Indi­vidu­um an. Der Massen­men­sch ist dadurch gekennze­ich­net, daß er sich vol­lkom­men fühlt und »keine Ehrfurcht vor gewis­sen
Grund­wahrheit­en« mehr hat. Er wäh­nt sich der Ver­gan­gen­heit über­legen und mißachtet die sit­tlichen Nor­men sein­er Vor­fahren. Der Staat wird unter der Regie der Masse zu ein­er Mas­chine, die sich in alle Lebens­bere­iche ein­mis­cht und die schöpferische Minorität unter­drückt.

Das Prob­lem der Ver­mas­sung sieht Orte­ga y Gas­set nicht auf die Unter- und Mit­telschicht­en beschränkt. Bemerkenswert­er­weise sieht er in einem Kapi­tel über die »Bar­barei des Spezial­is­ten­tums« den Wis­senschaftler als »das Urbild des Massen­men­schen«.

Als Kehr­seite des Auf­s­tandes der Massen beze­ich­net der habituell aris­tokratis­che Kul­tur­philosoph Orte­ga y Gas­set die »Fah­nen­flucht der Eliten«. Dies ist auch der Grund, warum das Werk seine Leser rel­a­tiv hoff­nungs­los zurück­läßt. Als einzi­gen Ausweg aus der Mis­ere des Massen­zeital­ters und dro­hen­der Bar­bareien sieht Orte­ga y Gas­set die gemein­same Auf­gabe zur Schöp­fung eines europäis­chen Nation­al­staates, der den sit­tlichen Ver­fall des Abend­lan­des aufhal­ten soll. Diese Idee konkretisiert er jedoch nicht weit­er.

Peter R. Hof­stät­ter kri­tisierte in seinem Werk Grup­pen­dy­namik (1957), daß le Bon und Orte­ga y Gas­set die »leis­tungsmäßige Über­legen­heit der Gruppe« ignori­eren wür­den. Nur wenn eine Gruppe infolge ein­er Panik ihre Struk­tur ver­liere, könne man von ein­er Masse sprechen. Anson­sten ergebe sich aus Grup­pen, die durch Hier­ar­chien geprägt sind, prinzip­iell eine Dynamik, die einen Vorteil für alle gegenüber dem isolierten Einzel­nen bringe.

Der Auf­s­tand der Massen hat sich trotz­dem als ein Stan­dard­w­erk der Massen­sozi­olo­gie etabliert. Ins­beson­dere in Deutsch­land und Lateinameri­ka hat es große Beach­tung erfahren, der »Massen­men­sch« wurde zum fes­ten Begriff. Dieses Inter­esse flaute in den let­zten Jahrzehn­ten spür­bar ab, da die Masse nicht mehr in großen Ver­bän­den anzutr­e­f­fen ist. Ger­ade Orte­ga y Gas­sets Charak­ter­isierung des Massen­men­schen bietet dabei aber den Schlüs­sel, um die habituellen Eigen­schaften der Masse auch beim einzel­nen weit­er­hin erfassen zu kön­nen.

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Zitat:

Der heutige Staat und die Masse stim­men nur darin übere­in, daß bei­de anonym sind. Aber da der Massen­men­sch tat­säch­lich glaubt, er sei der Staat, wird er in immer wach­sen­dem Maße dazu neigen, ihn unter beliebi­gen Vor­wän­den in Tätigkeit zu set­zen, um so jede schöpferische Minorität zu unter­drück­en, die ihn stört, ihn auf irgen­deinem Gebi­et stört – in der Poli­tik, der Wis­senschaft, der Indus­trie.

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Aus­gabe:

  • Mit einem Nach­wort von Michael Stürmer, München: DVA 2002

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Lit­er­atur:

  • Andrew Dob­son: An Intro­duc­tion to the Pol­i­tics and Phi­los­o­phy of José Orte­ga y Gas­set, Cam­bridge 1991