Koestler, Arthur, Schriftsteller, 1905–1983

Arthur Koestler ist das erstaunliche Beispiel eines Men­schen, der durch alle großen Stürme des 20. Jahrhun­derts ging, als begeis­tert­er Anhänger der großen, ver­führerischen Ideen, mit denen er schließlich radikal abrech­nete, um sich ein­er Art von ruh­elosem Kon­ser­vatismus zuzuwen­den. Geboren am 5. Sep­tem­ber 1905 in Budapest als Sohn ein­er deutschsprachi­gen jüdis­chen Fam­i­lie, studierte er ab 1922 Inge­nieur­swis­senschaften, Philoso­phie und Lit­er­atur in Wien, wo die Fam­i­lie seit 1920 lebte. Dort ent­deck­te er das Juden­tum, und wurde nach sein­er Bekan­ntschaft mit Wladimir Jabotin­sky zum lei­den­schaftlichen und radikalen Anhänger des «zion­is­tis­chen Revi­sion­is­mus», der mit allen Mit­tel einen jüdis­chen Staat in Palästi­na erricht­en wollte. Als junger Präsi­dent ein­er schla­gen­den zion­is­tis­chen Stu­den­ten­verbindung war er sog­ar ein­er der Mit­be­grün­der der bis heute beste­hen­den jüdis­chen Jugen­dor­gan­i­sa­tion «Betar».

Bren­nend auf prak­tis­che Umset­zung sein­er Ideen, reiste er nach Palästi­na, wo er sich als Lan­dar­beit­er einem land­wirtschaftlichen Kollek­tiv anschloß. Er führte in der Folge eine ärm­liche Exis­tenz in den Straßen von Haifa, Tel Aviv und Jerusalem. Diese Erfahrung ver­ar­beit­ete er viel später in seinem Buch Diebe in der Nacht (1946). Die Ent­täuschung kam schnell: »Ich fand mich an einem ver­lore­nen Ort in der Mitte des Nichts wieder, einem unheil­vollen und elen­den Ort.» Es fol­gte der defin­i­tive Bruch mit dem Zion­is­mus. 1948 erk­lärte er im Jew­ish Chron­i­cle anläßlich der Staats­grün­dung Israels, daß die Juden von nun an keine andere Wahl haben soll­ten, als nach Israel einzuwan­dern oder sich voll­ständig zu assim­i­lieren, wie er selb­st es getan habe.

Anfang der Dreißiger Jahre arbeit­ete Koestler in Deutsch­land für die Ull­stein-Ver­lags­gruppe, vor allem für die Vos­sis­che Zeitung, deren wis­senschaftliche Abteilung er leit­ete, und für die Berlin­er Zeitung am Mit­tag. Im Dezem­ber 1931 schloß er sich der KPD an, reiste mehrfach in die Sow­je­tu­nion und ging schließlich nach Paris, wo er für den Pro­pa­gan­dachef der Kom­intern, Willi Münzen­berg, arbeit­ete.

Als Berichter­stat­ter der englis­chen Zeitung News Chron­i­cles wurde er 1937 während des Spanis­chen Bürg­erkriegs in Mala­ga von fran­quis­tis­chen Trup­pen ver­haftet, zunächst zum Tode verurteilt, dann aber gegen die Gat­tin eines Fliegerass­es der Nationalen aus­ge­tauscht, die von den Repub­likan­ern gefan­gen gehal­ten wurde. Diese Episode inspiri­erte ihn zu den fes­sel­nd­sten Seit­en seines großen auto­bi­ographis­chen Buch­es Ein Spanis­ches Tes­ta­ment (1937). Ein Jahr später brach er endgültig mit der kom­mu­nis­tis­chen Partei, als Zeichen des Protestes gegen die Moskauer Schauprozesse.

Als der Zweite Weltkrieg aus­brach, befand sich Koestler in Frankre­ich, wo er von den franzö­sis­chen Behör­den als «uner­wün­schter Aus­län­der» eingestuft und im Lager von Ver­net interniert wurde. Auf Druck der britis­chen Behör­den wurde er ent­lassen, trat der Frem­den­le­gion bei, wech­selte seine Iden­tität, desertierte in Nordafri­ka und floh nach Lon­don, wo er eine Tätigkeit im Pro­pa­gan­damin­is­teri­um annahm.

1940 erschien der Roman Son­nen­fin­ster­n­is (1940), in dem er einen stal­in­is­tis­chen Prozeß gegen einen hohen sow­jetis­chen Funk­tionär beschreibt, der der­art indok­triniert ist, daß er seine eigene Hin­rich­tung akzep­tiert, obwohl ihn kein­er­lei Schuld trifft. Das Werk wurde schnell als Klas­sik­er des Anti­to­tal­i­taris­mus vom Range von Orwells 1984 anerkan­nt, führte aber zum Zer­würf­nis mit den Intellek­tuellen der Linken, allen voran Jean-Paul Sartre. Nach dem Krieg arbeit­ete Koestler mit dem vom CIA organ­isierten und diskret finanzierten Kongress für kul­turelle Frei­heit zusam­men.

Das Werk dieses großen Ver­führers (über dessen Frauengeschicht­en viel Tinte vergeudet wurde), das unabläs­sig zwis­chen den Extremen schillerte, teilt sich in Romane, Essays und auto­bi­ographis­che Schriften. 1972 wurde er mit dem «Order of the British Empire» aus­geze­ich­net. 1976 behauptete er in Der dreizehnte Stamm, daß das heute in der Dias­po­ra lebende Juden­tum nicht von den Juden des antiken Palästi­na abstamme, son­dern von dem Turkvolk der Chasaren, das im 13. Jahrhun­dert zum Juden­tum kon­vertiert sei. Diese umstrit­tene These wurde von der mod­er­nen genetis­chen Forschung nicht bestätigt, nichts­destotrotz dreißig Jahre später von dem israelis­chen His­torik­er Shlo­mo Sand aufge­grif­f­en.

Koestler ließ sich dauer­haft in Lon­don nieder, wo er sich seit den frühen Fün­fziger Jahren lei­den­schaftlich der Para­psy­cholo­gie und anderen «unortho­dox­en» wis­senschaftlichen Strö­mungen wid­mete. Er kri­tisierte den klas­sis­chen Dar­win­is­mus und alle Arten des Reduk­tion­is­mus inner­halb der Kog­ni­tivwis­senschaften, wie der Psy­cholo­gie, der Neu­ro­phys­i­olo­gie, der Biolo­gie und der Wirtschaftswis­senschaft. Ihm ist die Erfind­ung des Begriffes «Holon» (das «ganzheitlich Seiende») zu ver­danken, der jen­seits der sim­plen Gegenüber­stel­lung der Teile und des Ganzen die Fähigkeit von leben­den Organ­is­men beschreibt, emer­gente Eigen­schaften zu entwick­eln.

1969 gab er zusam­men mit J. R. Smythies die Auf­satzsamm­lung Das neue Men­schen­bild (Beyond Reduc­tion­ism) her­aus, die Vorträge eines großen inter­na­tionalen Kol­lo­qui­ums enthielt, das in Alp­bach (Öster­re­ich) abge­hal­ten wurde. Teil­nehmer waren unter anderem Jean Piaget, Jerome Brun­ner und Lud­wig von Berta­lanffy. Es erschien eine Rei­he von Büch­ern, die gle­icher­maßen den Mate­ri­al­is­mus wie den Freudi­an­is­mus attack­ierten, kul­minierend in Der Men­sch, Irrläufer der Evo­lu­tion (1978). Erkrankt an Leukämie und Parkin­son-Syn­drom, nahm er sich am 3. März 1983 in Rom das Leben, zusam­men mit sein­er drit­ten Ehe­frau Cyn­thia Jef­feries, nach dem Vor­bild von Ste­fan Zweig und sein­er Frau. Als Vertei­di­ger der Euthanasie war er zwei Jahre zuvor Vizepräsi­dent der Gesellschaft für frei­willige Euthanasie (Vol­un­tary Euthana­sia Soci­ety) gewor­den.

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Zitat:

Die intellek­tuelle Neugi­er, der Wun­sch zu ver­ste­hen, ist ein fun­da­men­taler Trieb, min­destens so stark wie der Hunger oder die Sex­u­al­ität: eine forschende Energie.

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Schriften:

  • Ein Spanis­ches Tes­ta­ment (Span­ish Tes­ta­ment, 1937, dt. 1938)
  • Die Glad­i­a­toren (The Glad­i­a­tors, 1939, dt. 1948)
  • Son­nen­fin­ster­n­is (Dark­ness at Noon, 1940, dt. 1946)
  • Ein Mann springt in die Tiefe (Arrival and Depar­ture, 1943, dt. 1945)
  • Der Yogi und der Kom­mis­sar (The Yogi and the Com­mis­sar, 1945, dt. 1950)
  • Diebe in der Nacht (Thieves in the Night, 1946, dt. 1949)
  • Die Geheim­schrift (The Invis­i­ble Writ­ing (1954, dt. 1955)
  • Die Nacht­wan­dler (The Sleep­walk­ers, 1959)
  • Das Gespenst in der Mas­chine (The Ghost in the Machine, 1967, dt. 1968)
  • Die Wurzeln des Zufalls (The Roots of Coin­ci­dence, 1972)
  • Die Her­ren Call-Girls (The Call Girls, 1972)
  • Der dreizehnte Stamm (The Thir­teenth Tribe, 1976, dt. 1977)
  • Der Men­sch, Irrläufer der Evo­lu­tion (Janus, 1978)

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Lit­er­atur:

  • John Atkins, Arthur Koestler, New York 1956
  • Iain Hamil­ton, Koestler. A Biog­ra­phy, Lon­don 1982
  • Mark Lev­ene, Arthur Koestler, New York 1984
  • David Cesarani, Arthur Koestler. The Home­less Mind, Lon­don 1998
  • Chris­t­ian G. Buckard, Arthur Koestler. Ein extremes Leben 1905–1983, München 2004
  • Michel Laval, L’homme sans con­ces­sions. Arthur Koestler et son siè­cle, Paris 2005
  • Michael Scam­mel, Koestler. The Lit­er­ary and Polit­i­cal Odyssey of a Twen­ti­eth-Cen­tu­ry Skep­tic, New York 2009