Canossa – Norditalien, Provinz Reggio Emilia

Zwanzig Kilo­me­ter südlich von Reg­gio, das sich im Südosten von Par­ma befind­et, erhebt sich in ein­er eher kar­gen Berg­land­schaft eine Rei­he von Fes­ten, unter denen die von Canos­sa hin­sichtlich ihrer geschichtlichen Bedeu­tung her­aus­ragt. Die heutige Ruine kann keinen Ein­druck mehr von dem imposan­ten Bauw­erk ver­mit­teln, das der Urgroß­vater von Mathilde von Tuszien, der glühen­den Anhän­gerin Papst Gre­gors VII., im 10. Jahrhun­dert erbauen ließ. Die Burg kam nach dem Erlöschen der Fam­i­lie Mathildes in den Besitz eines sich nach Canos­sa nen­nen­den Geschlechts. 1255 wurde die Wehran­lage weit­ge­hend zer­stört.

Die Burg Canos­sa gilt seit dem späten 11. Jahrhun­dert nicht nur als geo­graphis­ch­er, son­dern auch als sym­bol­is­ch­er Ort, an dem maßge­bliche Weichen gestellt wur­den. Die Aus­d­if­feren­zierung­sprozesse im hohen Mit­te­lal­ter führten dazu, daß die herkömm­liche Ein­heit­skul­tur von reg­num und sac­er­dotium ein­er stärk­eren Unter­schei­dung, freilich im Rah­men der christlichen Ord­nung, Platz machte. Die Investi­tur von Päp­sten, Bis­chöfen und Reich­säbten durch Laien wie dem König, dem immer weniger ein gen­uin­er Ort in der kirch­lichen Hier­ar­chie
zuge­bil­ligt wurde, stieß in größerem Maße auf Kri­tik, die vor allem eine asketis­che Gruppe inner­halb der römis­chen Kirche, beson­ders um den Mönch Hilde­brand und vorher schon um Kar­di­nal Hum­bert von Sil­va Can­di­da, artikulierte. Diesen höheren Klerik­ern lag die lib­er­tas eccle­si­ae beson­ders am Herzen. Die Kirche sollte ihrer Ansicht nach von unseli­gen Verquick­un­gen mit weltlichen Angele­gen­heit­en, die sich am deut­lich­sten in der Simonie, im Kauf geistlich­er Ämter zeigten, befre­it wer­den.

Dieses Ansin­nen erwies sich als rev­o­lu­tionär. König Hein­rich IV. set­zte die Tra­di­tion sein­er Vor­fahren fort, die selb­stver­ständlich höhere geistliche Wür­den­träger fak­tisch sowohl ein- wie auch abge­set­zt hat­ten, wen­ngle­ich meist auf formelle kanon­is­che Ver­fahren Rück­sicht genom­men wurde. Zum Kon­flikt kam es, als Papst Gre­gor VII. diese Prax­is autori­ta­tiv unter­sagte. Der König weigerte sich, Gehor­sam zu leis­ten. Noch Jahrzehnte später kon­sta­tierte Bischof Otto von Freis­ing, in diesem Rin­gen sei die »gute alte Zeit« zu Ende gegan­gen. Schließlich exkom­mu­nizierte 1076 der Papst den Herrsch­er – ein für die Zeitzeu­gen uner­hörter Vor­gang. Die Geg­n­er des Königs im Reich nutzten die für ihn schwierige Sit­u­a­tion. Es zeich­nete sich auf der Fürsten­ver­samm­lung von Tribur seine Abset­zung ab.

Da die Fürsten Hein­rich IV. bis Feb­ru­ar 1077 Zeit gegeben hat­ten, den Kirchen­bann lösen zu lassen, mußte der König han­deln. In einem äußerst stren­gen Win­ter zog er mit seinem Sohn und sein­er Gat­tin nach Süden über die Alpen. Der Papst hat­te sich auf die Burg Canos­sa  zurück­ge­zo­gen, die er schon früher als »Zucht­burg« (Bernd Schnei­d­müller) für seine Geg­n­er ver­wen­det hat. Erst nach einiger Zeit akzep­tierte der Papst die Abbitte des Königs, der nach etlichen Tagen Rede­ver­bots und karg­er Speise reumütig in die Kirche wieder­aufgenom­men wurde. Das anschließende Ver­söh­nungs­mahl stellte die Gemein­schaft von Papst und König wieder her. Neuere Forschun­gen, etwa von Schnei­d­müller, beto­nen freilich, daß ger­ade bei diesem Anlaß deut­lich gewor­den sei, daß sich der wieder in die Kirche aufgenommene Sün­der keineswegs angemessen ver­hal­ten habe. Man kön­nte fol­gern, es habe sich mehr um ein tak­tis­ches Ver­hal­ten des Königs gehal­ten. Hein­rich hat­te das Ulti­ma­tum der Fürsten rechtzeit­ig erfüllt. Ein Bürg­erkrieg im Reich ließ sich jedoch nicht ver­mei­den. Allerd­ings set­zte sich der König gegen den Gegenkönig, Rudolf von Schwaben, durch, dem die Hand im Kampf abgeschla­gen wurde, die Hand, mit der er Hein­rich einst die Treue geschworen hat­te. Nach einem zweit­en Bann durch den Papst erhielt der Regent nach seinem Tod zuerst nicht ein­mal ein Begräb­nis in gewei­hter Erde, son­dern wurde erst später im Dom zu Spey­er beige­set­zt.

Der geschichtliche Ort Canos­sa war von Anfang an Gegen­stand eines hefti­gen Stre­its zwis­chen »Königlichen« und »Päp­stlichen«. Eine der kon­tro­ver­sen Fra­gen lautete: Unter­warf sich der Herrsch­er voll­ständig in poli­tis­ch­er Hin­sicht oder fol­gte er lediglich den For­men des kirch­lichen Bußritu­als? Bei­des ist freilich schw­er zu dif­feren­zieren, da das Weltliche erst sehr undeut­lich vom Geistlichen geschieden war. Nicht ein­mal die Einzel­heit­en der his­torischen Über­liefer­un­gen, etwa das bar­füßige Warten des Herrsch­ers im Schnee, sind unum­strit­ten. Die Mehrheit der Zeitgenossen hat wohl das Ersuchen des Königs nicht unbe­d­ingt als demüti­gende Unter­w­er­fung ver­standen, son­dern als einen für einen Sün­der unumgänglichen Bußakt.

Nach­dem die kon­fes­sionellen Auseinan­der­set­zun­gen heute weit­ge­hend been­det sind, wird die tief­ere Bedeu­tung der hochmit­te­lal­ter­lichen Auseinan­der­set­zung deut­lich. Trotz der Kri­tik an geistlichen Mach­tansprüchen dürfte es für die meis­ten Geschichtswis­senschaftler kein Prob­lem sein, zuzugeben, daß die Gruppe um Papst Gre­gor ein legit­imes Anliegen vertreten hat, wenn sie eine zumin­d­est rel­a­tive Autonomie der Kirche beanspruchte. Laien durften nach Mei­n­ung dieser Kreise keine Klerik­er mehr ein­set­zen und soll­ten kein Recht besitzen, über Gewei­hte Gericht zu hal­ten. Die Gre­go­ri­an­is­chen Refor­men, zu der auch die kirchen­rechtlich verpflich­t­ende Ein­führung des Zöli­bats gehörte, wären nicht ohne den Wider­stand gegen Anmaßun­gen der weltlichen Seite möglich gewe­sen.

Eine poli­tisch her­aus­ra­gende Bedeu­tung bekam das Ereig­nis von Canos­sa im Kon­text des Kul­turkampfes in den frühen 1870er Jahren. Schon Jahre vorher kam es zu ver­stärk­ten Auseinan­der­set­zun­gen zwis­chen dem auf­streben­den, lib­eralen Bürg­er­tum und den Mächt­en der Tra­di­tion, zu denen vornehm­lich die katholis­che Kirche gezählt wurde. In Deutsch­land kon­nte »Canos­sa« als eine der wirk­sam­sten »geschicht­spoli­tis­chen Waf­fen« (Diet­mar Klenke) gegen das ver­meintlich rückschrit­tliche Pap­st­tum und seine Vertei­di­ger einge­set­zt wer­den. In diesem Punkt waren Reich­skan­zler Otto von žBis­mar­ck und die Nation­al­lib­eralen eine Zeit­lang Ver­bün­dete. Berühmtheit erlangte sein Ausspruch am 14. Mai 1872 im Reich­stag: »Seien Sie außer Sorge,
nach Kanos­sa gehen wir nicht, wed­er kör­per­lich noch geistig.« Hier wurde die Meta­pher ver­wen­det, um eine Selb­stern­iedri­gung des weltlichen Gemein­we­sens, wie es sie im 11. Jahrhun­dert anscheinend gegeben habe, dies­mal kat­e­gorisch auszuschließen. Ein Einknick­en vor klerikalen Mach­tansprüchen kam nicht in Frage, was die Lib­eralen beruhi­gen mußte.

Nach dem Zweit­en Weltkrieg, als sich das ganze deutsche Volk in die Rolle des Büßers gedrängt sah, wurde die Rede vom »Gang nach Canos­sa« im Sinne eines über­mäßi­gen Schuld­be­wußt­seins gebraucht. Franz Schön­hu­ber ließ seine Anhänger am 8. Feb­ru­ar 1989, nach­dem die Repub­likan­er über­raschend ins Berlin­er Abge­ord­neten­haus einge­zo­gen waren, wis­sen: »Wir erk­lären die Umerziehung der Deutschen für been­det und den Fahrkarten­schal­ter nach Canos­sa für endgültig geschlossen!«

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Lit­er­atur

  • Wern­er Goez: Kirchen­re­form und Investi­turstre­it 910‑1122, Stuttgart 2008
  • Jör­gen Vogel: Gre­gor VII. und Hein­rich IV. nach Canos­sa. Zeug­nisse ihres Selb­stver­ständ­niss­es, Berlin/New York 1983
  • Har­ald Zim­mer­mann: Der Canos­sagang von 1077. Wirkun­gen und Wirk­lichkeit, Mainz 1975
  • Canos­sa 1077 – Erschüt­terung der Welt. Geschichte, Kun­st und Kul­tur am Auf­gang der Romanik, 2 Bde., hrsg. von Christoph Stiege­mann und Matthias Wemhoff, Pader­born 2006