Das Schwarzbuch des Kommunismus — Stéphane Courtois, 1997

Mitte der neun­ziger Jahre erschienen in Frankre­ich zwei poli­tis­che Büch­er mit außeror­dentlich­er Wirkung: Fran­cois Furets Das Ende der Illu­sion (1995) und das von Stéphane Cour­tois her­aus­gegebene Schwarzbuch des Kom­mu­nis­mus (1997). Bei­den gemein­sam war nicht nur das The­ma – die Abrech­nung mit dem Kom­mu­nis­mus –, son­dern auch die kri­tis­che Bilanzierung jen­er linken Ten­denz, das sow­jetis­che Sys­tem zu ver­harm­losen, schönzure­den, mit irgendwelchen Argu­menten zu recht­fer­ti­gen. Furet wie Cour­tois waren früher an dieser Apolo­gie aktiv beteiligt gewe­sen, der eine als Mit­glied der alten, der andere als Mit­glied der neuen Linken.

Bei­de waren sich ihrer Schuld bewußt und auch der bleiben­den Schä­den, die das his­torische  Bewußt­sein dadurch erlit­ten hat­te, daß es der west­lichen Intel­li­gen­z­i­ja über Jahrzehnte gelun­gen war, den Kom­mu­nis­mus in einem fre­undlichen Licht erscheinen zu lassen – als  Men­schheit­straum, der trotz aller bekan­nt gewor­de­nen Massen­ver­brechen irgend­wie seine Berech­ti­gung aus der all­ge­meinen Sehn­sucht nach einem Leben in paradiesis­chen Zustän­den zog.

Während Das Ende der Illu­sion eine his­torische Aufar­beitung lieferte, war das Schwarzbuch von Anfang an als Gen­er­al­abrech­nung gedacht: eine Bilanz des roten Ter­rors über acht Jahrzehnte hin­weg, von der Okto­ber­rev­o­lu­tion bis zum Unter­gang der UdSSR, von den Mas­sak­ern, die auf Lenins Befehl durchge­führt, und den KZs, die auf seinen Befehl gebaut wor­den waren, bis zu den Nachah­mern, die er in den Län­dern der »Drit­ten Welt« fand, von der staatlich organ­isierten Unter­drück­ung im Ost­block bis zu den Säu­berun­gen, die die »Brud­er­parteien« im Unter­grund durch­führten. Für Cour­tois und seine Mitar­beit­er gab es wed­er einen qual­i­ta­tiv­en Unter­schied zwis­chen dem chao­tis­chen Mor­den der Bürg­erkriegsphase und den Liq­ui­dierungs­be­fehlen Stal­ins, noch einen zwis­chen den Tötun­gen, die als Preis der Mod­ernisierungs­maß­nah­men betra­chtet wur­den, und denen, die im Rah­men von Kampfhand­lun­gen gescha­hen. Immer ging es darum, daß im Namen ein­er Ide­olo­gie, die sich aus­drück­lich als höch­ste Stufe des »Human­is­mus« emp­fahl, eine his­torisch beispiel­lose Zahl von Opfern fiel. Nicht die »Reak­tion« und auch nicht nur der »Faschis­mus« haben Hekatomben gefordert, son­dern eine Weltan­schau­ung und ein Regime, das behauptete, im Namen des Fortschritts und der Men­schheit zu agieren.

Angesichts der ide­ol­o­gis­chen Machtverteilung in den west­lichen Län­dern war nicht über­raschend, daß das Schwarzbuch bei Erscheinen mas­siv­en Anfein­dun­gen aus­ge­set­zt war. Von seinen ehe­ma­li­gen Genossen wurde Cour­tois  selb­stver­ständlich als Renegat und Ver­räter betra­chtet, aber auch im juste milieu gab es viele, die ihn verdächtigten, jenen The­sen Vorschub zu leis­ten, die seit dem »His­torik­er­stre­it« die Schreck­en des Nation­al­sozial­is­mus aus dem Schreck­en des Bolschewis­mus ableit­eten. Es war aus­drück­lich die Rede von einem »franzö­sis­chen His­torik­er­stre­it«. Angesichts dessen kann nicht über­raschen, daß die Abwehrver­suche in Deutsch­land noch heftiger aus­fie­len. Der Fair­ness hal­ber sei aber auch erwäh­nt, daß es einige Anze­ichen für linke Scham ob der »Immu­nisierungsver­suche« (Chris­t­ian Sem­ler) gab und aus dem bürg­er­lichen Lager den Willen, den Gesamtvor­gang beim richti­gen Namen zu nen­nen: »rot­er Holo­caust«.

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Zitat:

Lenin und seine Nach­fol­ger schlossen den Kap­i­tal­is­ten, den Bour­geois, den Kon­ter­rev­o­lu­tionär usw. ein­deutig von der Men­schheit aus. Die aus dem sozi­ol­o­gis­chen oder poli­tis­chen Diskurs geläu­fi­gen Begriffe nah­men sie auf und macht­en daraus absolute Feind­bilder. Wie Kaut­sky 1918 sagte, han­delt es sich dabei um kautschukar­tig dehn­bare Begriffe, die dazu berechti­gen, aus der Men­schheit auszu­gren­zen, wen, wann und wie man will, und die direkt zum Ver­brechen gegen die Men­schlichkeit führen.

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Aus­gabe:

  • Ein­ma­lige Son­der­aus­gabe, München: Piper 2004

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Lit­er­atur:

  • Horst Möller (Hrsg.): Der rote Holo­caust und die Deutschen. Die Debat­te um das »Schwarzbuch des Kom­mu­nis­mus«, München 1999