Der Fragebogen — Ernst von Salomon, 1951

Nach dem Ende des Zweit­en Weltkriegs und der deutschen Kapit­u­la­tion soll­ten alle Bewohn­er der west­lichen Besatzungszo­nen einen Frage­bo­gen aus­füllen, um damit über ihre Ver­strick­un­gen mit dem NS-Regime Auskun­ft zu geben. Dazu waren 131 Fra­gen zu beant­worten. Das Spek­trum reichte dabei von Angaben zur Per­son, Fra­gen nach poli­tis­ch­er Betä­ti­gung und Mit­glied­schaften in Organ­i­sa­tio­nen, bis hin zur Doku­men­ta­tion des jew­eili­gen Aus­bil­dungsweges.

Ernst von Salomon, der die NS-Zeit zuerst als Lek­tor im Rowohlt-Ver­lag und ab 1938 als Drehbuchau­tor ver­bracht hat­te, nahm diesen Frage­bo­gen zum Anlaß, anhand der Fra­gen eine deutsche Geschichte vom Ersten Weltkrieg bis zur amerikanis­chen Besatzung nach Ende des Zweit­en Weltkriegs zu schreiben.

Salomon beant­wortete dazu jede einzelne der Fra­gen so aus­führlich, daß ein Buch von mehr als 800 Seit­en daraus wurde. Er arbeit­ete fast fünf Jahre an diesem Buch, das in ein­er bewußt lock­eren Dik­tion geschrieben ist. In den Antworten kommt dadurch ein deutsches Leben zum Vorschein, das sich ger­ade nicht in die inquisi­torischen Fra­gen pressen läßt und diese ad absur­dum führt.  Salomon kommt sich den­noch vor wie ein Ver­brech­er, dem man die unan­genehm­sten Fra­gen stellen kann, um ihm auf die Schliche zu kom­men und des Ver­brechens zu über­führen.

Bekan­nt waren bis dahin Salomons Erleb­nisse in der Lichter­felder Kadet­te­nanstalt, seine Freiko­rps-Zeit, die Beteili­gung am Rathenau-Mord, der anschließende Gefäng­nisaufen­thalt sowie seine Erfahrun­gen mit der Land­volk­be­we­gung. Über all das hat­te Salomon zwis­chen 1930 und 1933 auto­bi­ographis­che Büch­er geschrieben. Im Frage­bo­gen legt Salomon den Schw­er­punkt auf die End­phase der Weimar­er Repub­lik, den All­t­ag im Deutsch­land nach 1945 und seine Internierung in einem amerikanis­chen Lager, aber auch auf seine Herkun­ft und Fam­i­lie.

Salomon ver­ste­ht den Frage­bo­gen der Amerikan­er als den mod­er­nen Ver­such ein­er Gewis­senser­forschung ana­log der klas­sis­chen Beichte und beze­ich­net sich als den »einzi­gen  Men­schen in der ganzen Welt«, der den Frage­bo­gen »wirk­lich ernst nimmt«. Demzu­folge beant­wortet er jede der Fra­gen sehr detail­liert. Das ganze Buch wird damit zu ein­er iro­nis­chen Abrech­nung mit dem Weltverbesserungswahn der Amerikan­er, da Salomon in keine der vorgegebe­nen Schubladen der Umerziehung passen will. Nur bei Fra­gen, die zur Denun­zi­a­tion von Bekan­nten und Ver­wandten aufrufen, ver­weigert er die Antwort.

Die Mehrzahl der Antworten schildern ver­schiedene Begeben­heit­en, Erleb­nisse und Zusam­men­hänge, die sich im Laufe des Buch­es zu einem Mosaik for­men, aus dem klar her­vorge­ht, daß die Geschichte nicht so gradlin­ig ver­laufen ist, wie sich die Fragesteller das vorgestellt haben mögen.

Deut­lich wird Salomons Herange­hensweise auch in den Kleinigkeit­en, wenn er beispiel­sweise die Frage nach seinem Gewicht mit ein­er Abhand­lung über die Entwick­lung seines Leibesum­fangs beant­wortet und auch noch sein Ide­al­gewicht nen­nt (»Ich bin gerne dick.«). Die Frage, ob er ein­er Wider­stands­gruppe ange­hört habe, beant­wortet Salomon mit Ja. Er sei Mit­glied der Orts­gruppe Immig gewe­sen, der im übri­gen 80 Prozent der Deutschen ange­hört hät­ten – wom­it er nichts anderes als die ein­fachen Leute (im konkreten Fall eine Frau) meint, die sich von der Indok­tri­na­tion durch die NS-Ide­olo­gie unbeein­druckt zeigten und ihren All­t­ag bestrit­ten, wie sie es unter jed­er anderen Regierungs­form auch tun wür­den.

Den Anfang macht Salomon im Buch bei der Frage nach sein­er »Stel­lung«, indem er schildert, wie er nach der Haft zum Schrift­steller wurde, der die rechte Boheme von Berlin ken­nen­lernte, die
Land­volk­be­we­gung redak­tionell unter­stützte, um schließlich beim Rowohlt-Ver­lag als Autor und später­er Lek­tor zu lan­den. Den Krieg über­ste­ht er, nach einem Inter­mez­zo als Freiko­rps­forsch­er,
als Drehbuchau­tor gemein­sam mit ein­er jüdis­chen Fre­undin. Von beson­derem Inter­esse sind seine Schilderun­gen des All­t­ags im Drit­ten Reich.

Am Beispiel von Hart­mut Plaas, der wie Salomon am Atten­tat auf Rathenau beteiligt war und der nach 1933 vom ehe­ma­li­gen Freiko­rps­führer Ehrhardt zur SS entsandt wurde, zeigt Salomon, daß ein objek­tiv­er Befund (Mit­glied­schaft in der SS) dur­chaus unter­schiedliche Ursachen haben kon­nte. Plaas ist als Wider­ständler hin­gerichtet wor­den. Salomon set­zt ihm, aber auch Hanns Ludin, der 1947 als Kriegsver­brech­er hin­gerichtet wurde, mit seinem Frage­bo­gen ein Denkmal und legt den Schluß nahe: Ob jemand, in einem nichtkrim­inellen Sinne, schuldig ist, hängt dem­nach vor  allem davon ab, wer ger­ade Recht spricht.

Das Buch wurde ein großer Verkauf­ser­folg und damit ein­er der ersten Best­seller der Bun­desre­pub­lik. Trotz der bis heute anhal­tenden Anfein­dun­gen, die in dem Buch eine Recht­fer­ti­gungss­chrift ver­muten, ist es mit­tler­weile ein Klas­sik­er, der dem »Zeital­ter der Extreme« (Eric Hob­s­bawm) ein Gesicht gegeben hat.

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Zitat:

Ich habe das Wort »Demokratie« immer nur sehr sel­ten und sehr ungern benützt. Ich weiß nicht, was das ist, und ich habe auch noch nie­man­den gefun­den, der es mir ein­leuch­t­end zu erk­lären wußte. Aber ich fürchte, Hitlers Behaup­tung, seine ide­ol­o­gis­che Konzep­tion sei die Konzep­tion der Demokratie, wird schw­er zu wider­legen sein.

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Aus­gabe:

  • 18. Auflage der Taschen­buchaus­gabe, Rein­bek bei Ham­burg: Rowohlt 1999.

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Lit­er­atur:

  • Markus Josef Klein: Ernst von Salomon. Rev­o­lu­tionär ohne Utopie, Aschau 2002