Der Untergang des Abendlandes — Oswald Spengler, 1918/1922

Spen­gler fragt in seinem epochemachen­den Hauptwerk nach der »Logik der Geschichte«. Er will aufzeigen, daß »allem His­torischen all­ge­meine biographis­che Urfor­men zugrunde« liegen. Das wiederum ver­lockt ihn zu dem Ver­such, »Geschichte vorauszubes­tim­men«. Denn wenn sich Kul­turen wie Organ­is­men ver­hal­ten, sind sie in ihren Abläufen berechen­bar.

Bis­lang habe es acht his­torisch bedeut­same Men­schheit­skul­turen gegeben. Laut Spen­gler sind Kul­turen »Lebe­we­sen höch­sten Ranges«, die in ihrer Lebens­dauer von etwa tausend Jahren alle vier natür­lichen Zyklen (Früh­ling, Som­mer, Herb­st und Win­ter) durch­laufen. Weil jede Kul­tur, wie jedes Leben, unweiger­lich den Geset­zen der Wach­s­tum­sphasen unter­wor­fen ist, haben auch alle Kul­turen das gle­iche »Schick­sal«: Sie sinken am Ende in die Bedeu­tungslosigkeit des »Unhis­torischen« herab, d. h. sie gehen in das Sta­di­um der »Zivil­i­sa­tion« über, der Ver­fall­szeit, in der sie unschöpferisch und gle­ichgültig dahin­veg­etieren.

Zur Verdeut­lichung dieses Prozess­es konzen­tri­ert sich Spen­gler auf die bei­den großen eura­sis­chen Kul­turen, die »apollinis­che« Antike und das »faustis­che« Abend­land, an denen er sein Mod­ell der »Gle­ichzeit­igkeit« his­torisch­er Entwick­lun­gen zu bele­gen ver­sucht. »Apollinisch« ste­ht für die eher pas­sive, genügsame Leben­sauf­fas­sung antik­er Völk­er, die über ein gerin­geres Raum-Zeit-Gefühl ver­fügten als der ruh­elose, stets expan­sion­sori­en­tierte »faustis­che« Men­sch, der um seine halt­lose Stel­lung in der Welt weiß und sie deshalb ratio­nal­isieren will.

Für Spen­gler sind Kul­turen »fen­ster­lose Mon­aden«, die sich auf­grund ihrer wesentlichen Ver­schieden­heit untere­inan­der gar nicht ver­ste­hen kön­nen. Kon­se­quenter­weise leugnet er jede men­tale oder typol­o­gis­che Ver­wandtschaft zwis­chen Antike und Abend­land. Gle­ich­wohl durch­lebten bei­de Kul­turen aber ger­adezu frap­pierend analoge Entwick­lungsstufen, was Spen­gler die Vorauss­chau auf den weit­eren Gang des Abend­lan­des erlaubt.

Oft überse­hen wird, daß es sich bei dem ins­ge­samt 1200 Seit­en starken Werk wed­er um Geschichtss­chrei­bung noch um Philoso­phie im klas­sis­chen Sinne han­delt, son­dern um geschicht­sphilosophis­che Dich­tung. »Natur soll man wis­senschaftlich behan­deln, über Geschichte soll man dicht­en.« Der Unter­gang des Abend­lan­des ist nur ein Vorschlag zur Welt­deu­tung, indem er alles Seiende organ­isch verknüpft und so die Kul­turen zu den eigentlichen Schau­plätzen des Lebens erk­lärt. Nicht mehr Völk­er oder Epochen, wie bei Ranke, son­dern Kul­turen oder Kul­turkreise bilden den Kern der Welt­geschichte, sind ihre treiben­den Kräfte. Dabei set­zt Spen­gler seinen Schw­er­punkt ein­deutig auf das »Seel­is­che« der Kul­tur­räume. Er will hin­ter die bloßen Kausalver­hält­nisse des geschichtlichen Lebens drin­gen und ver­traut deshalb sein­er Intu­ition mehr als reinen Fak­ten. Entsprechend »pathetisch« nen­nt er die Kapi­tel: »Vom Sinn der Zahlen«, »Schick­sal­sidee und Kausal­ität­sprinzip«, »Zur Form der Seele«, »Die Seele der Stadt« usw. Das Buch ist vor allem große speku­la­tive Kul­turpsy­cholo­gie. Wer es anders zu lesen beab­sichtigt, wird sein­er Inten­tion kaum gerecht.

Am Ende ein­er jeden Kul­tur ste­ht das Zeital­ter der »Welt­städte« (Baby­lon, Theben, Alexan­dria, Rom – Paris, Lon­don, Berlin, New York), in denen die »form­losen Wäh­ler­massen« zu Hause sind, genußsüchtig und dekadent, abgek­lärt und see­len­los, kün­st­lerisch nur noch zum Eklek­tizis­mus fähig. Auf der let­zten Stufe ist das Geld endgültig zur Herrschaft gelangt, der Geist hat stark an Bedeu­tung ver­loren, und das Ide­al der Mei­n­ungs­frei­heit sei zur Farce gewor­den, da die Massen­me­di­en, zum Mit­tel der Parteiendik­tatur verkom­men, der Menge vor­for­mulieren, was sie wollen soll.

Dieser, ober­fläch­lich betra­chtet, stark pes­simistis­che Duk­tus brachte Spen­gler von Anfang an den Ruf ein, Fatal­ist zu sein. Der plaka­tive Titel des Buch­es tat sein übriges. Doch meinte Spen­gler, wenn er von »Unter­gang« sprach, eigentlich »Vol­len­dung« des Abend­lan­des. Er legte Wert darauf, den »Unter­gang« ein­er Kul­tur nicht mit dem eines Oze­an­dampfers zu ver­wech­seln. »Nein, ich bin kein Pes­simist. Pes­simis­mus heißt: keine Auf­gaben mehr sehen. Ich sehe so viele noch ungelöst, daß ich fürchte, es wird uns an Zeit und Män­nern für sie fehlen.« (Pes­simis­mus?, 1921).

Deshalb emp­fiehlt Spen­gler, den alten Ide­alen aus der »Kul­tur« nicht länger nachzu­trauern, son­dern sich an die Spitze der »Zivil­i­sa­tion« zu stellen und den Impe­ri­al­is­mus als neue Lebens­form anzuerken­nen: »Wenn unter dem Ein­druck dieses Buchs sich Men­schen der neuen Gen­er­a­tion der Tech­nik statt der Lyrik, der Marine statt der Malerei, der Poli­tik statt der Erken­nt­niskri­tik zuwen­den, so tun sie, was ich wün­sche, und man kann ihnen nichts Besseres wün­schen.«

Der Ein­fluß, den das Werk – oder doch zumin­d­est sein Titel und einige grif­fige Schlag­worte aus dem Inhalt – auf die Intellek­tuellen- und Kün­stlerkreise der Weimar­er Repub­lik aus­geübt hat, ist kaum zu über­schätzen. Der Unter­gang des Abend­lan­des hat­te nach dem Schock der Nieder­lage von 1918 den Nerv der Zeit getrof­fen. Auf­grund seines ein­nehmenden Prosastils und sein­er phan­tastis­chen Fülle an eigen­willi­gen Deu­tun­gen löste der »intellek­tuale Roman« (Thomas Mann) häu­fig auch bei solchen Lesern Begeis­terung aus, die dem Inhalt gar nicht fol­gen kon­nten oder woll­ten. Als Ganzes zwar (bis heute) wenig, und noch weniger gründlich gele­sen, wurde Der Unter­gang des Abend­lan­des den­noch bald zum geflügel­ten Wort, das die Gemüter polar­isierte. Ablehnung von Seit­en der Fach­wis­senschaft und Spott von Seit­en der marx­is­tis­chen Linken trafen den Autor in beina­he gle­ich­er Inten­sität wie die (zeitweilige) kul­tische Verehrung seit­ens kon­ser­v­a­tiv­er und kul­turpes­simistis­ch­er Schwärmer. Trotz manch­er Unge­nauigkeit­en, Wider­sprüche und schiefer Analo­giebil­dun­gen hat das Werk bis heute nichts an sug­ges­tiv­er Kraft und geschicht­sphilosophis­ch­er Anschaulichkeit ver­loren.

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Zitat:

Aber »die Men­schheit« hat kein Ziel, keine Idee, keinen Plan, so wenig wie die Gat­tung der Schmetter­linge oder Orchideen ein Ziel hat. »Die Men­schheit« ist ein zool­o­gis­ch­er Begriff oder ein leeres Wort.

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Aus­gabe:

  • Der Unter­gang des Abend­lan­des. Umrisse ein­er Mor­pholo­gie der Welt­geschichte: I. Band, Wien/Leipzig: Braumüller 1918; II. Band, München: C. H. Beck 1922; bei­de Bände (End­fass­sung): ebd. 1923
  • Ungekürzte Son­der­aus­gabe in einem Band, mit einem Nach­wort von Detlef Felken, München: C. H. Beck 1998

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Lit­er­atur:

  • Frits Boter­man: Oswald Spen­gler und sein “Unter­gang des Abend­lan­des”, Köln 2000
  • Eduard Mey­er: Spen­glers “Unter­gang des Abend­lan­des”, Berlin 1925