Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit — Konrad Lorenz, 1973

Der öster­re­ichis­che Ver­hal­tens­forsch­er Kon­rad Lorenz war nach seinem Buch Das soge­nan­nte Böse (1963) und der Ver­lei­hung des Nobel­preis­es (1973) zu ein­er öffentlichen Per­son gewor­den. Dies führte dazu, daß der zunächst an entle­gen­er Stelle erschienene Auf­satz Die acht Tod­sün­den der zivil­isierten Men­schheit als Buch (1973) ein Best­seller wurde und seine War­nung vor ver­schiede­nen gesellschaftlichen Fehlen­twick­lun­gen die Massen erre­ichte.

Der zeit­geschichtliche Hin­ter­grund der Studie waren die Auswirkun­gen von 1968 und die ersten Anfänge der Umwelt­be­we­gung. Die von Lorenz angeprangerten acht Tod­sün­den sind:

  1. die Übervölkerung,
  2. die Ver­wüs­tung des Leben­sraumes,
  3. der Wet­t­lauf mit sich selb­st (d.h. die Beschle­u­ni­gung des gesellschaftlichen Tem­pos und der tech­nis­chen Entwick­lung),
  4. der Wärme­tod des Gefühls (d.h. die Ver­we­ich­lichung und Abs­tump­fung durch die Gewöh­nung an allzu schnelle Bedürfnis­be­friedi­gung),
  5. der genetis­che Ver­fall durch nach­lassende Selek­tion,
  6. das Abreißen der Tra­di­tion,
  7. die zunehmende Indok­trinier­barkeit der Men­schen und schließlich
  8. die Gefahr, die von den Kern­waf­fen aus­ge­ht.

Lorenz sieht die mod­erne Gesellschaft in einem sich selb­st ver­stärk­enden Prozeß pos­i­tiv­er Rück­kop­plung gefan­gen, der zur »Enthu­man­isierung« führt. Durch die tech­nis­che und ökonomis­che Entwick­lung wer­den die ihr ent­ge­gen­ste­hen­den biol­o­gisch und kul­turell ver­ankerten Fak­toren unter­laufen. So set­zen zum Beispiel die mod­er­nen Fer­n­waf­fen die natür­liche Tötung­shem­mung außer Kraft. Die gedrängte großstädtis­che Sied­lungsweise über­fordert das an über­schaubare Grup­pen angepaßte men­schliche Sozialver­hal­ten und set­zt Aggres­sio­nen frei. Die immer leichtere Möglichkeit schneller Bedürfnis­be­friedi­gung führt zu Abs­tump­fung und zur zunehmenden Unfähigkeit, Unlust und Anstren­gun­gen zu ertra­gen.

Wie das domes­tizierte Hausti­er zeigt auch der Men­sch in der mod­er­nen Zivil­i­sa­tion nicht nur charak­ter­is­tis­che kör­per­liche Verän­derun­gen — die von Lorenz soge­nan­nte »Ver­hauss­chwei­n­ung« des Men­schen -, son­dern auch entsprechende soziale Aus­fälle. Der biol­o­gisch angelegte und evo­lu­tionär sin­nvolle Gen­er­a­tio­nenkon­flikt hat im Zuge der gesellschaftlichen Beschle­u­ni­gung ein Aus­maß angenom­men, das die Zivil­i­sa­tion in ihrer Exis­tenz gefährdet. Die jugendlichen Sub­kul­turen zeigen mit ihren eige­nen Ver­hal­tens- und Klei­dungsstilen Merk­male kün­stlich­er Art­bil­dung (Pseu­do-Spezi­a­tion) und ste­hen der Eltern­gener­a­tion mit »eth­nis­chem Haß« gegenüber.

In der Zeit der begin­nen­den Ökolo­giebe­we­gung – 1972 waren die Gren­zen des Wach­s­tums des Club of Rome erschienen – kam das Buch von Lorenz in vielem dem Zeit­geist ent­ge­gen. Zwar kri­tisierten manche, daß Lorenz allzu unge­niert durch den Nation­al­sozial­is­mus belastete Begriffe ver­wen­den würde, dies kon­nte jedoch dem Erfolg des Buch­es keinen Abbruch tun. Es führte allerd­ings dazu, daß ein Teil der medi­alen und wis­senschaftlichen Elite in Lorenz einen zu bekämpfend­en poli­tis­chen Geg­n­er erkan­nte. Deren Macht war aber damals noch nicht groß genug, um den öffentlichen Ein­fluß, den Lorenz gel­tend machen kon­nte, ver­hin­dern zu kön­nen.

Die Acht Tod­sün­den der zivil­isierten Men­schheit haben in wis­senschaftlich­er Hin­sicht manche Schwächen, etwa wenn Lorenz von Selek­tion spricht, ohne dabei den rel­a­tiv­en Fortpflanzungser­folg zu berück­sichti­gen. Ihre Bedeu­tung beste­ht vor allem darin, daß Lorenz mit ihnen eine kon­ser­v­a­tive Kul­turkri­tik auf ethol­o­gis­ch­er Grund­lage begrün­dete. Diese Tra­di­tion sollte in der Folge vor allem von seinem Schüler Irenäus Eibl-Eibesfeldt fort­ge­set­zt wer­den.

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Zitat:

Dem kap­i­tal­is­tis­chen Großpro­duzen­ten wie dem sow­jetis­chen Funk­tionär muß gle­icher­weise daran gele­gen sein, die Men­schen zu möglichst uni­for­men, ide­al wider­stand­slosen Unter­ta­nen zu kon­di­tion­ieren .. Der Irrglaube, daß man dem Men­schen, richtige »Kon­di­tion­ierung« voraus­ge­set­zt, schlech­ter­d­ings alles zumuten, schlech­ter­d­ings alles aus ihm machen kann, liegt den vie­len Tod­sün­den zugrunde, welche die zivil­isierte Men­schheit gegen die Natur, auch gegen die Natur des Men­schen und gegen die Men­schlichkeit bege­ht. Es muß eben übel­ste Auswirkun­gen haben, wenn eine wel­tum­fassende Ide­olo­gie samt der sich aus ihr ergeben­den Poli­tik auf ein­er Lüge begrün­det ist.

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Lit­er­atur:

  • Franz M. Wuketits: Kon­rad Lorenz. Leben und Werk eines großen Natur­forsch­ers, München 1990