Die Frage Wozu? — Robert Spaemann, 1981

Spae­manns bedeu­ten­des philosophis­ches OEu­vre verbindet fun­da­men­tale natur­philosophis­che und anthro­pol­o­gis­che Stu­di­en, die den sou­verä­nen alteu­ropäis­chen Hor­i­zont mit Instru­men­tarien mod­ern­er angel­säch­sis­ch­er Philoso­phie in Verbindung brin­gen, mit bril­lanten Invek­tiv­en zur Schutzwürdigkeit men­schlichen Lebens, dem »unsterblichen Gerücht« der Gottes­frage, aber auch zum Ver­hält­nis von Kirche und Staat. Spae­mann berät Papst Benedikt XVI. in philosophis­chen Fra­gen. Er ist der vielle­icht bedeu­tend­ste lebende Philosoph aus dezi­diert katholis­ch­er Grundüberzeu­gung, der das Ver­hält­nis von Glaube und Ver­nun­ft in eigen­ständi­ger Weise zu bes­tim­men weiß.

Die Frage Wozu? ent­stand aus Vor­lesun­gen im Win­terse­mes­ter 1976/77, die in gemein­samer Arbeit mit seinem langjähri­gen Assis­ten­ten, dem Natur­philosophen Rein­hard Löw, zu einem Buch aus­ge­baut wur­den. Schon ein­lei­t­end ver­weist Spae­mann auf die Unhin­terge­hbarkeit der »Warum«-Frage, die in der mod­er­nen Natur­wis­senschaft und ihrer Epis­te­molo­gie aufgelöst wor­den ist. Sowohl im Ver­ste­hen wie im Erk­lären bedeutete die »Warum«-Frage die Wieder­her­stel­lung von Ver­trauen des Men­schen zur Welt als dem Seien­den im Ganzen: im ersten Feld im Sinne des Aufweisens inten­tionaler Struk­tur, im zweit­en im Sinne der Frei­le­gung von Geset­zmäßigkeit­en. Das Inter­esse an Tele­olo­gie beste­ht – nicht zulet­zt vor der ökol­o­gis­chen Krise der Mod­erne – darin, Natur als ver­traute jen­seits des Herrschaftswis­sens »so anzueignen, daß wir unsere Zuge­hörigkeit zu ihr real­isieren kön­nen, ohne zugle­ich unser Selb­stver­ständ­nis als han­del­nde Wesen aufzugeben«.

Zunächst wird eine präg­nante Geschichte tele­ol­o­gis­chen Denkens in der abendländis­chen Philoso­phie ent­fal­tet, deren sou­verän­er Bogen­schlag vom Pla­tonis­chen Konzept des let­zten Ziels über Aris­tote­les’ Lehre von der Bewe­gung und den vier Causae zur »Intellek­tu­al­isierung« der Tele­olo­gie im Mit­te­lal­ter, vor allem bei Thomas von Aquin, führt. Bei Thomas sieht Spae­mann in der These, daß ein wirk­endes Telos Bewußt­sein und Geist voraus­set­zt, den Höhep­unkt und zugle­ich die Peripetie der tele­ol­o­gis­chen Denk­form. Im Nom­i­nal­is­mus und Vol­un­taris­mus der Spätscholastik ist das Telos zunächst für unerkennbar erk­lärt wor­den; dann aber kommt es zu ein­er Inver­sion der Tele­olo­gie in dem Sinn, daß die ihren antiken Aus­prä­gun­gen eigen­tüm­liche Selb­st­tran­szen­denz auf Selb­ster­hal­tung zurück­ge­bo­gen werde. Nur ein­er solchen invertierten Erhal­tung­stele­olo­gie kon­nte Niet­zsche seine Kri­tik ent­ge­gen­hal­ten. Höchst auf­schlußre­iche Kapi­tel über ver­suchte Ver­mit­tlun­gen zwis­chen Tele­olo­gie und Uni­ver­salmechanik in den großen ratio­nal­is­tis­chen Sys­te­men – bei Leib­niz, Wolff, vor allem aber in Kants Kri­tik der Urteil­skraft – schließen sich eben­so an wie ein Blick auf die wenig erforscht­en Anknüp­fun­gen an tele­ol­o­gis­ches Denken im Deutschen Ide­al­is­mus.

Ein Höhep­unkt ist die Niet­zsche-Deu­tung, die frei­legt, daß Niet­zsches große Let­ztgedanken, »Über­men­sch« und »Ewige Wiederkehr«, aus atele­ol­o­gis­ch­er Grund­hal­tung tele­ol­o­gis­che Muster nach­hallen lassen. Den Todesstoß hat der Tele­olo­gie laut Spae­mann die Natur­wis­senschaft des 19. und 20. Jahrhun­derts ver­set­zt. Dafür macht Spae­mann ins­beson­dere die Dar­win­sche Evo­lu­tion­s­the­o­rie ver­ant­wortlich, die sich, fast wie eine Pseudore­li­gion, auf das gesamte Gebi­et der Wis­senschaft aus­geweit­et hat. Haeck­els Monis­mus kommt dabei eine Scharnier­stel­lung zu. Die ent­tele­ol­o­gisierte Welt umfaßt Kos­mos, Leben, den Men­schen, aber auch die Dimen­sion des Geisti­gen und des Sit­tlichen. Ver­i­ta­ble Gegen­po­si­tio­nen zum Evo­lu­tion­is­mus sind, sieht man von Hans Dri­esch ab, seit­dem kaum mehr artikuliert wor­den.

All­ge­mein ver­ständlich und zugle­ich auf höch­stem philosophis­chem Niveau untern­immt Spae­mann eine Gegenkri­tik an diesem dom­i­nan­ten Antitele­ol­o­gis­mus: Sie zielt u. a. darauf ab, daß die »Anpas­sungs­the­o­rie« der Evo­lu­tion­slehre ein »Zwit­ter« zwis­chen Tran­szen­den­tal­philoso­phie und ein­er deskrip­tiv real­is­tis­chen Ontolo­gie sei. Sie plädiert aber auch dafür, Kausal­ität so zu ver­ste­hen, daß sie ein tele­ol­o­gis­ches Ver­hält­nis voraus­set­zt. Dies wird in der Analyse von Grund­be­grif­f­en des mech­a­nis­tisch evo­lu­tionären Welt­bildes wie »Materie« und »Spiel­regel«, aber auch an deren nur reduk­tiv­en Konzep­tio­nen von Bewußt­sein und Sit­tlichkeit ver­tieft. Dabei leugnet Spae­mann nicht, daß Tele­olo­gie sich erst nachträglich­er Inter­pre­ta­tion erschließt.
Natur­wis­senschaftliche Erk­lärung kann auf sie verzicht­en. Doch Ziele und Zwecke sind Kat­e­gorien der Selb­ster­fahrung. Wird ein ent­fi­nal­isiertes wis­senschaftlich­es Welt­bild uni­ver­sal­isiert, so tilgt es dieses gen­uine Humanum. Wis­senschaft ist ein Selb­stzweck, nicht aber absoluter Zweck, der sich gegen diese grundle­gen­den und until­gbaren prak­tis­chen Vol­lzüge wen­den kön­nte. Doch auch inner­wis­senschaftlich zeigt sich, daß die »Entan­thro­po­mor­phisierung« let­ztlich fehlschla­gen muß: Evo­lu­tion ist Bedin­gungswis­senschaft und als solche berechtigt. Sie ist aber nicht in der
Lage, das Entste­hen von Neuem zeigen zu kön­nen, und schon gar nicht eröffnet sie den Blick auf die unhin­terge­hbare Phänom­e­nal­ität, etwa das sich zeigende Schöne, das es um sein­er selb­st willen zu erhal­ten gilt. Der Begriff der »Teleonomie« in der mod­er­nen Biolo­gie kann als wis­senschaftliche Rekon­struk­tion der Tele­olo­gie gel­ten. Er weist zugle­ich auf die  Unhin­terge­hbarkeit ein­er funk­tionalen Betra­ch­tung hin, um Kon­struk­tion­s­ge­set­ze des Natür­lichen zu erken­nen.

Die Frage Wozu? ist ein her­aus­ra­gen­des Werk: Es verbindet einen großen prob­lemgeschichtlichen Zugriff mit scharf­sichtiger, ana­lytisch bril­lanter Kri­tik und der Fähigkeit, eine weit­ge­hend aus dem Blick gekommene Zugangsweise zur Welt im Zeichen spät­mod­ern­er Krise wieder zu erin­nern. Neue Aktu­al­ität kommt Spae­manns Buch in der gegen­wär­ti­gen Auseinan­der­set­zung mit ein­er Selb­stre­duk­tion des Men­schen in der Neu­rowis­senschaft und der Evo­lu­tions­bi­olo­gie und empirischen Anthro­polo­gie zu. Es zeigt überzeu­gend, daß nur vor einem geisti­gen Hin­ter­grund von mehr als zweitausend Jahren, in Verbindung mit der Erken­nt­nis des »Hier und Jet­zt«, unre­flek­tierte Selb­stver­ständlichkeit­en in Frage gestellt wer­den kön­nen. Auf diese Weise ist es ein­er der ganz großen Beiträge zur Wieder­ent­deck­ung alteu­ropäis­ch­er Denk­for­men.

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Zitat:

Das Mit­tel ist Mit­tel zum Zweck. Zweck aber ist das Ganze, das die Mit­tel selb­st umgreift und inte­gri­ert. Es ist den Mit­teln nicht äußer­lich. Dieses Ganze in seinem Selb­st­sein aber tran­szendiert das Mit­tel-Zweck-Ver­hält­nis. Es ist ein Unmit­tel­bares, das man über­haupt nicht erk­lären und in gewis­sem Sinne auch nicht ver­ste­hen oder eben nur so ver­ste­hen kann, daß es den Hor­i­zont seines möglichen Ver­standen­wer­dens selb­st erst in seinem Sich-Zeigen eröffnet.

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Aus­gabe:

  • Natür­liche Ziele. Geschichte und Wieder­ent­deck­ung des tele­ol­o­gis­chen Denkens, Stuttgart: Klett- Cot­ta 2005

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Lit­er­atur:

  • Thomas Buch­heim, Rolf Schön­berg­er, Wal­ter Schwei­dler (Hrsg.): Die Nor­ma­tiv­ität des Wirk­lichen. Über die Gren­zen zwis­chen Sein und Sollen. Robert Spae­mann zum 75. Geburt­stag. Stuttgart 2002
  • Rein­hard Löw (Hrsg.): Oikeio­sis. Festschrift für Robert Spae­mann, Wein­heim 1987
  • Hans-Gre­gor Niss­ing (Hrsg.): Grund­vol­lzüge der Per­son. Dimen­sio­nen des Men­sch­seins bei Robert Spae­mann, München 2008