Die heilige Stadt — Werner Müller, 1961

Wern­er Müller war ein großer Außen­seit­er der deutschen Eth­nolo­gie. Umfassend gebildet, habil­i­tierte er sich 1942 an der Reich­suni­ver­sität Straßburg in Völk­erkunde, kon­nte aber 1944 eine Dozen­tur wegen des Kriegs­geschehens nicht mehr antreten. U. a. wegen sein­er Tätigkeit in der Stiftung Ahnenerbe blieb ihm nach 1945 eine Uni­ver­sität­slauf­bahn ver­wehrt, und er mußte in den Bib­lio­theks­di­enst auswe­ichen.

Müllers wis­senschaftlich­es Werk spiegelt sein lei­den­schaftlich­es Inter­esse für his­torisch-reli­gion­s­geschichtliche Forschun­gen wider, ins­beson­dere auf dem Gebi­et der Sym­bol­forschung. Grundle­gende Veröf­fentlichun­gen über die Reli­gio­nen der nor­damerikanis­chen Indi­an­er sicherten ihm den Ruf, ein­er der besten Ken­ner dieser Materie zu sein. Sein sym­bol­geschichtlich­es Inter­esse führte ihn in Roma quadra­ta jedoch auch weit über den nor­damerikanis­chen Raum hin­aus. Im vier­geteil­ten Rom mit der den Erdnabel verge­gen­wär­ti­gen­den Mundus­grube im Schnittpunkt der Achsen als Ursprung der Stadt und der Geschichte und dem darüber gestülpten Him­mels­gewölbe deckt Müller eine tran­skul­turelle Epiphanie auf, das Grund­mod­ell ein­er sakralen Geo­gra­phie, in der die Kos­mo­gra­phie sich zur Kos­mogo­nie weit­et. Dieses Urbild ver­fol­gt er in ein­er durch ihre Fülle an Anschau­ungs­ma­te­r­i­al respek­t­ge­bi­etenden Darstel­lung durch die Epochen und Kon­ti­nente, wobei er im altweltlichen Kon­text jedoch keine direk­te Abhängigkeit der nordeu­ropäis­chen Sied­lungs­grun­drisse von der Antike annimmt, son­dern eher eine indoger­man­is­che Urver­wandtschaft, die auch die asi­atis­chen Man­i­fes­ta­tio­nen des Grund­mod­ells mit ein­schließt.

Dieses Urmod­ell sieht Müller ander­er­seits auch bei nor­damerikanis­chen Stammes­ge­sellschaften ver­wirk­licht. Auf das Zeug­nis der amerikanis­chen Hochkul­turen hat er jedoch gän­zlich verzichtet, da hier die wis­senschaftliche Decke noch nicht reiche. Das ist bedauer­lich, da die Vierzahl beispiel­sweise im vier­geteil­ten Inkare­ich Tawan­tinsuyu, dem Reich der vier Reich­steile, die in der Haupt­stadt Cus­co aufeinan­der­trafen, nicht zu überse­hen ist.

Mit Roma quadra­ta, wie auch mit seinen Werken über Glauben und Denken nor­damerikanis­ch­er Indi­an­er, möchte sich Müller dem Bild­denken früher­er vor­wiegend bildlich ges­teuert­er Epochen der Men­schheit zuwen­den, die dem heuti­gen Forsch­er fern gerückt seien. Kon­nte er durch seine wis­senschaftlichen Indi­aner­büch­er und viele gelun­gene pop­ulär­wis­senschaftliche Auf­sätze in den siebziger und achtziger Jahren noch auf eine Anhänger­schaft unter der jün­geren Gen­er­a­tion rech­nen, so ste­ht sein Werk heute im deutschsprachi­gen Raum wie ein erratis­ch­er Block in ein­er fach­lichen Umwelt, die jeglich­es Inter­esse an Mythos und Sym­bo­l­ik und den damit ver­bun­de­nen Grund­fra­gen wie z. B. der psy­chis­chen Ein­heit der Men­schheit ver­loren hat. Daher blieb hier Roma quadra­ta ohne Res­o­nanz. Es birgt einen Schatz an Wis­sen und Erken­nt­nis­sen, der darauf wartet, von ein­er neuen Gen­er­a­tion gebor­gen zu wer­den, die sich aus der geisti­gen Gefan­gen­schaft im Ökonomis­mus befre­it, der dem Main­stream der gegen­wär­ti­gen Kul­tur­wis­senschaften enge Gren­zen zieht und sie die großen Fra­gen, die Müller bewegten, nicht ein­mal mehr ahnen läßt.

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Zitat:

Der Grun­dakko­rd römis­ch­er Fröm­migkeit, mit dem Willen der Göt­ter zu han­deln, im Ein­klang mit Jupiter zu leben, ver­lei­ht dem Römer­tum seine Unwider­stehlichkeit. An dieser Stelle entzün­det sich die römis­che Überzeu­gung, Weg­bere­it­er des Schick­sals zu sein und ein Imperi­um zu bauen, das die Got­theit selb­st ent­wor­fen hat.

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Lit­er­atur:

  • Wern­er Müller: Neue Sonne – Neues Licht. Auf­sätze zu Geschichte, Kul­tur und Sprache der Indi­an­er Nor­damerikas, Berlin 1981
  • Berthold Riese: Wern­er Müller, in: Neue Deutsche Biogra­phie Bd. 18, Berlin 1997
  • Karl­heinz Weiß­mann: Eli­ade und Wern­er Müller, in: Sezes­sion (2007), Heft 16: Mircea Eli­ade