Die Stellung des Menschen im Kosmos — Max Scheler, 1928

In den zwanziger Jahren des 20. Jahrhun­derts vol­l­zog sich in der Philoso­phie eine »anthro­pol­o­gis­che Wende« (Friedrich Seifert). Die Philoso­phie besann sich darauf, daß die wesentliche Voraus­set­zung der Philoso­phie im jew­eili­gen Bild des Men­schen liegt. Diese »Wende« war zunächst die Folge des unge­mein angewach­se­nen Einzel­wis­sens über den Men­schen, das den Blick auf den Men­schen und sein Wesen lenk­te. Hinzu kam, daß die seit der Neuzeit für die Philoso­phie als grundle­gend ange­se­hene Erken­nt­nis­the­o­rie frag­würdig wurde, weil über den Aus­gangspunkt der Erken­nt­nis, den Men­schen, offen­bar keine let­zt­gültige Aus­sage zu tre­f­fen war.

In diesem Erneuerung­sprozeß spielt Max Schel­er eine wichtige Rolle, da er diese neue Sicht schon frühzeit­ig erprobte und kurz vor seinem Tod eine erste Zusam­men­fas­sung vor­legen kon­nte.

Mit dem Titel seines Buch­es Die Stel­lung des Men­schen im Kos­mos, dem ein 1927 in der Darm­städter Schule der Weisheit des Grafen Key­ser­ling gehal­tener Vor­trag zugrunde liegt, deutet Schel­er bere­its an, daß es um eine alte Fragestel­lung geht, die nach ein­er neuen Antwort ver­langt. Tra­di­tionell sieht er das Bild vom Men­schen in Europa von drei Ideenkreisen bes­timmt, die nicht miteinan­der vere­in­bar sind: der jüdis­chchristlichen Tra­di­tion, dem griechisch-antiken Gedankenkreis und der Natur­wis­senschaft. Hier ste­hen sich Wesens­be­griff und natursys­tem­a­tis­ch­er Begriff des Men­schen ver­ständ­nis­los gegenüber.

Schel­er beschreibt weit­er drei Stufen des Psy­chis­chen, denen der Men­sch ange­hört: der Gefühls­drang, über den schon die Pflanze ver­fügt (als Hineinwach­sen in ihre Form) ist auch im Men­schen vorhan­den, der Instinkt, der auf Dinge der Außen­welt gerichtet und fest­gelegt ist und schließlich das »assozia­tive Gedächt­nis«, mit dem eine zunehmende Her­aus­lö­sung des Indi­vidu­ums aus der Starrheit des Instink­ts ver­bun­den ist.

Hinzu tritt die »organ­isch gebun­dene prak­tis­che Intel­li­genz«, die den Men­schen in die Lage ver­set­zt, auch neue Sit­u­a­tio­nen zu meis­tern und zwis­chen Alter­na­tiv­en zu wählen. Da diese eben­falls bei Tieren, Affen etwa, beobachtet wer­den kann, stellt Schel­er die Frage nach der Son­der­stel­lung des Men­schen: Ist er wesentlich oder nur gradu­ell vom Tier zu unter­schei­den?

Schel­er mißt dem gradu­ellen Intel­li­gen­zun­ter­schied keine Bedeu­tung bei, son­dern sieht im Men­schen »ein neues Prinzip«, das dem Leben ent­ge­genge­set­zt ist und damit keine Steigerung oder Poten­zierung der bere­its erwäh­n­ten psy­chis­chen Stufen bedeutet. Der Men­sch ist dem­nach ein geistiges Wesen. Das Prinzip des Geistes bedeutet Sach­lichkeit, die die Geschlossen­heit der tierischen Umwelt­struk­tur durch­bricht. Der Men­sch ist »weltof­fen«, weil er sich von der Umwelt dis­tanzieren und sie zur Welt machen (»entwirk­lichen«) kann und daraus Selb­st­be­wußt­sein und Per­son­al­ität schöpft. Er ist der Protes­tant, der Nein­sager.

Die wesentliche Voraus­set­zung dafür ist, daß der Men­sch die Trieben­ergie zu geistiger Tätigkeit sub­lim­ieren kann. Da der Geist über keine ursprüngliche Eigenen­ergie ver­fügt und der Kraft­strom daher von unten nach oben ver­läuft, muß er die Triebkräfte her­vor­rufen und in seine Rich­tung lenken. Schel­er beschreibt hier eine Stufen­folge, bei der die unteren Stufen die stärk­eren sind, die die höheren tra­gen, von diesen aber gelenkt wer­den. Geist und Leben sind in dieser Stufen­folge als Gegen­satz aufeinan­der hin­ge­ord­net. Gestört wird diese Ord­nung durch die Über­sub­lim­ierung, die nicht nur das Leben ver­nach­läs­sigt, son­dern auch den Geist schädigt.

Abschließend wen­det sich Schel­er den meta­ph­ysis­chen Fra­gen zu. Der Men­sch ist dem­nach der einzige Ort der Got­twer­dung, der uns zugänglich ist, wobei Schel­er hier die Ver­wirk­lichung des Welt­grun­des meint, der im Men­schen mitvol­lziehbar ist, weil in ihm Leben und Geist zusam­menkom­men. Der Men­sch wird für Schel­er daher zum Mitkämpfer der Got­theit.

Schel­ers Vor­trag gilt seit dem Erscheinen der Druck­fas­sung als Grün­dung­s­text der Philosophis­chen Anthro­polo­gie. Das im Vor­wort zur Buchaus­gabe in Aus­sicht gestellte größere Werk zu diesem The­ma kon­nte Schel­er nicht mehr vor­legen, weil er unmit­tel­bar nach Druck­le­gung des Vor­trags starb. Da Hel­muth Pless­ner seine umfan­gre­ichen Stufen des Organ­is­chen im sel­ben Jahr vor­legte, gibt es seit­dem eine Auseinan­der­set­zung über die Frage, wer die Philosophis­che Anthro­polo­gie begrün­det hat. Allerd­ings brachte ihr erst Arnold Gehlens Der Men­sch (1940) den wis­senschaftlichen Durch­bruch. Schel­ers schmales Bänd­chen bleibt davon unberührt. Es ist bis heute als Selb­stvergewis­serung des Men­schen gültig.

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Zitat:

Es ist Auf­gabe ein­er Philosophis­chen Anthro­polo­gie, genau zu zeigen, wie aus der Grund­struk­tur des Men­sch­seins … alle spez­i­fis­chen Mono­pole, Leis­tun­gen und Werke der Men­schen her­vorge­hen: so Sprache, Gewis­sen, Werkzeug, Waffe, Ideen von Recht und Unrecht, Staat, Führung, die darstel­len­den Funk­tio­nen der Kün­ste, Mythos, Reli­gion, Wis­senschaft, Geschichtlichkeit und Gesellschaftlichkeit.

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Aus­gabe:

  • 16., durchge­se­hene Auflage, Bonn: Bou­vi­er 2005

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Lit­er­atur:

  • Joachim Fis­ch­er: Philosophis­che Anthro­polo­gie. Eine Denkrich­tung des 20. Jahrhun­derts, Freiburg/München 2008