Der 9. November 1918 ist vielleicht das Schlüsseldatum der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. An diesem Tag brach in Deutschland die Revolution aus, der Krieg war verloren, der Kaiser dankte ab und entschloß sich zur Flucht ins Exil. Dies, und nicht etwa der Kriegsausbruch 1914, war die eigentliche »Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts« (George F. Kennan): Hier offenbarte sich der Erste Weltkrieg als der »falsche Krieg« (Niall Ferguson); falsch vor allem deshalb, weil ihn die falsche Seite gewonnen hatte. Mit Deutschlands Niederlage und dem Ende der Monarchie waren im Grunde alle Aussichten dahin, der »deutschen Weltalternative« (Alfred Weber) Geltung zu verschaffen. Das Scheitern der Weimarer Republik war nur eine Spätfolge von 1918 und hatte mit den harten Bestimmungen des Versailler Vertrags ebenso zu tun wie mit dem nicht ganz unbegründeten Vorwurf des Verrats der Revolutionäre am deutschen Heer. Das Schicksal Kaiser Wilhelms II. war es, zur Symbolfigur des tragischen Scheiterns des Deutschen Reiches zu werden, und Doorn wurde hierfür zum symbolischen Ort.
Die heute keine 10 000 Einwohner umfassende Gemeinde in der niederländischen Provinz Utrecht besitzt eigentlich nur eine einzige Sehenswürdigkeit, nämlich das kleine Schloß »Huis Doorn«, das aus dem 13. Jahrhundert stammt und in den folgenden Jahrhunderten mehrfach aus- und umgebaut wurde. Wilhelm II. bezog es 1920, nachdem er zwei Jahre als Gast auf dem wenige Kilometer entfernten Schloß Amerongen gelebt hatte. Der Kaiser schätzte das eigentlich zu kleine »Huis Doorn«, weil es vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten bot und weil es von einem großen Schloßpark umgeben war. Hier verbrachte er seine letzten beiden Lebensjahrzehnte, freundlich behandelt vom niederländischen Staat, der sich kategorisch weigerte, den Auslieferungsforderungen der Siegermächte des Ersten Weltkriegs nachzukommen. Wilhelm hat den Ort nicht mehr verlassen, empfing hier aber regelmäßig Besuch, vor allem von Monarchisten,
die die Aussichten auf eine Restauration erörtern wollten.
Der Kaiser selbst hatte allerdings entsprechende Hoffnungen schon in der Mitte der 1920er Jahre aufgegeben und höchstens pro forma seine Ansprüche auf den Thron aufrechterhalten. Statt dessen führte er das Leben eines Privatmannes, sichtlich erleichtert vom Wegfall der Last politischer Verantwortung. Die Doorner Jahre widmete der Kaiser in erster Linie seinen geistigen Interessen und korrespondierte mit einer ganzen Reihe von Gelehrten, darunter der Altorientalist Alfred Jeremias und der Ethnologe Leo Frobenius. Mit Frobenius verband den Kaiser die gemeinsame Ablehnung des durch Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes verbreiteten Kulturpessimismus und die Hoffnung auf eine von Deutschland ausgehende kulturelle Erneuerung Europas.
Außerdem diskutierten sie über die Notwendigkeit des »Königstodes« – der rituellen Opferung des Herrschers zur Stabilisierung der politischen Ordnung. Es liegt auf der Hand, daß das für Wilhelm II. auch eine Auseinandersetzung mit dem unrühmlichen Ende der eigenen Herrschaft war. Den verbreiteten Vorwurf, er habe durch seine Flucht das Vaterland im Stich gelassen, konterte der Kaiser mit der Interpretation des Gangs ins Exil als Opfer, das einen besseren Frieden und einen leichteren politischen Neuanfang ermöglichen sollte. Man kann über diese Interpretation streiten, zumal es im November 1918 auch die Möglichkeit eines realen »Königstodes« Wilhelms an der Seite eines Freiwilligentrupps an der Front gegeben hatte. In einer Lage, in der seine Offiziere ihm erklärten, das Heer stehe nicht mehr hinter ihm und werde ihn bei der Niederschlagung der Revolution nicht unterstützen, war das Exil aber tatsächlich eine naheliegende Lösung.
Der Kaiser publizierte in Doorn seine Memoiren und schrieb einige Bücher über kulturhistorische Themen; in das politische Geschäft der Weimarer Republik mischte er sich so gut wie nicht ein. Selbstverständlich war er bemüht, das allzu negative Bild der Wilhelminischen Epoche zu korrigieren, das sich bereits in Geschichtswissenschaft und öffentlicher Meinung zu konstituieren begann. Im ganzen aber war das Verhalten Wilhelms II. im Doorner Exil eines Kaisers angemessen und würdig. Das weiß niemand besser als die Gemeinde Doorn selbst, die mit dem Herrn von
»Huis Doorn« einen großzügigen Arbeitgeber erhielt. Man bewahrt dem Kaiser dort deshalb noch heute ein ausgesprochen freundliches Andenken. »Huis Doorn« wurde nach dem Tod Wilhelms II. nahezu unverändert erhalten und bildet zusammen mit dem Schloßpark ein Museum, das zum überwiegenden Teil ehrenamtlich betrieben wird. Die finanzielle Situation ist allerdings mehr als schwierig: Schon im Jahr 2000 kündigte das niederländische Ministerium für Erziehung, Kultur und Wissenschaft an, sämtliche Subventionen für »Huis Doorn« zu streichen. Das konnte zwar zunächst noch verhindert werden, doch 2012 wurde die finanzielle Förderung um die Hälfte reduziert. Wenn sich kein privater Förderer – beispielsweise das Haus Hohenzollern – findet, der hier einspringt, dann wird die historische Sammlung erhalten bleiben, das Museum aber geschlossen werden müssen. Das Interesse in Deutschland ist bezeichnenderweise gering.
Dabei enthält »Huis Doorn« nicht nur äußerst wertvolle historische Stücke, die Wilhelm II. in Dutzenden Eisenbahnwaggons aus Deutschland herschaffen ließ; auch der Kaiser selbst hat seine letzte Ruhe in Doorn gefunden. Sein Sarg liegt im Schloßpark in einem kleinen Mausoleum, das er selbst entworfen hat und dessen Schlichtheit berührt. Doorn erweist sich vor allem in dieser Hinsicht als Symbolort deutscher Geschichte: Es zeigt Wilhelm II., den tragisch »scheiternden Deutschen« (Arthur Moeller van den Bruck), der aber im Scheitern Größe beweist. Es ist daher kein Zufall, daß so viele Besucher in Doorn nachhaltig vom Kaiser beeindruckt waren. Hans Blüher schrieb in seinen Erinnerungen: »Wenn mich aber jemand fragen würde, wer von den Sterblichen
auf mich den tiefsten Eindruck gemacht hat, so würde ich ohne Zögern sagen: Wilhelm von Hohenzollern.« Der Schriftsteller Reinhold Schneider formulierte nach seinem Doorn-Besuch sogar eine geradezu apokalyptische Vision: »Wie stark, ja bewundernswert auch sein Wille zur Haltung ist: er ist versehrt, wie vom Tode gestreift; er hält sich starr auf dem Pferde: er befiehlt; die Truppe gehorcht ihm noch, aber nicht der abgestorbene Arm. Und niemand vermag zu sagen, welche Verhängnisse, welche vernichtungsartigen Umwandlungen der hinter ihm düsternde
Himmel unserer Weltzeit noch birgt. Denn eben dieser gelähmte Mächtige ritt uns voraus.«
Vor seinem Tod verfügte Wilhelm II., daß sein Leichnam nur dann nach Deutschland überführt werden dürfe, wenn dort die Monarchie wiedereingesetzt sei. Auch darin also ist Doorn ein symbolischer Ort für unsere Gegenwart, für die »kaiserlose, die schreckliche Zeit«.
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Literatur:
- Christoph Johannes Franzen/Karl-Heinz Kohl/Marie-Luise Recker (Hrsg.): Der Kaiser und sein Forscher. Der Briefwechsel zwischen Wilhelm II. und Leo Frobenius (1924–1938), Stuttgart 2012
- Benjamin Hasselhorn: Politische Theologie Wilhelms II., Berlin 2012
- Sigurd von Ilsemann: Der Kaiser in Holland. Aufzeichnungen des letzten Flügeladjutanten Kaiser Wilhelms II., 2 Bde., München 1967–1968
- Hans Wilderotter/Klaus‑D. Pohl (Hrsg.): Der letzte Kaiser. Wilhelm II. im Exil, Berlin 1991