Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft — Hannah Arendt, 1951

Das Hauptwerk Han­nah Arendts, welch­es die poli­tis­che Philosophin weltweit berühmt machte, fir­miert als Klas­sik­er der Total­i­taris­mus­the­o­rie. Freilich lassen dessen Großkapi­tel »Anti­semitismus, Impe­ri­al­is­mus, Totale Herrschaft« erah­nen, daß der Entwurf von 1949 sich the­ma­tisch noch auf die Ele­mente und Ursprünge des Nation­al­sozial­is­mus beschränk­te. Die Erstveröf­fentlichung von 1951 umfaßte indessen bere­its Stu­di­en zum Stal­in­is­mus, die für die deutschen Aus­gaben von 1955 und 1958 nochmals erweit­ert wur­den, bis die ver­gle­ichende Unter­suchung dieser »Vari­a­tio­nen des gle­ichen Mod­ells« 1966 endlich in gültiger Form erschien.

Als wichtig­ste struk­turgeschichtliche Voraus­set­zung des Total­i­taris­mus, dessen Begriff sie auf Nation­al­sozial­is­mus und Stal­in­is­mus ein­gren­zt, zeich­net Arendt den Zusam­men­bruch des nation­al­staatlich organ­isierten Europa in der Peri­ode des Impe­ri­al­is­mus nach. Dabei macht sie den tief­sten Ursprung der his­torischen Krise der Nation in dem struk­turellen Wider­spruch
zwis­chen der poli­tis­chen Ord­nung des bürg­er­lichen Staates und den ökonomis­chen Entwick­lung­s­ten­den­zen der bürg­er­lichen Gesellschaft aus, die als­bald über die ter­ri­to­ri­alen Gren­zen des Nation­al­staats hin­aus­drängten. Mit der impe­ri­al­is­tis­chen Expan­sion des Kap­i­tals ging eine bürokratis­che Machtkonzen­tra­tion des Staates ein­her, die diesen schließlich zu jen­em
»Leviathan« wer­den ließ, der er Hobbes zufolge immer schon war.

Vor allem aber brachte der europäis­che Impe­ri­al­is­mus den mod­er­nen Ras­sis­mus her­vor, dessen anti­re­pub­likanis­che Stoßrich­tung auch den tra­di­tionellen Patri­o­tismus zer­stören mußte. In der deutschen Entwick­lung brach sich zudem ein völkisch­er Anti­semitismus Bahn, wobei schon die roman­tis­che Konzep­tion der »Volk­sna­tion« selb­st, im Gegen­satz zur ratio­nal­is­tis­chen der »Staat­sna­tion«, auf eine transna­tionale Volks­ge­mein­schaft aus­gerichtet war. Kon­se­quent suchte der »Panger­man­is­mus«, der sein rus­sis­ches Pen­dant im »Panslaw­is­mus« hat­te, die ter­ri­to­ri­alen Gren­zen des klein­deutschen Reich­es zu unter­wan­dern und dessen poli­tis­che Autorität auszuhöhlen.

Hat­te das Deutsche Reich in sein­er Grün­derzeit den Juden die staat­srechtliche Gle­ich­stel­lung gewährt, so wurde dage­gen in dessen impe­ri­al­is­tis­chem Über­schwang ein ras­sis­ch­er Anti­semitismus mächtig, der in einem schrof­fen Mißver­hält­nis zur wach­senden ökonomis­chen Über­flüs­sigkeit und poli­tis­chen Macht­losigkeit der Juden selb­st stand: Das den Staat ali­men­tierende jüdis­che Geld­kap­i­tal ver­lor gegenüber dem impe­ri­al­is­tisch expandieren­den deutschen Finanzkap­i­tal zunehmend an Bedeu­tung. Dabei radikalisierte sich das anti­semi­tis­che Ressen­ti­ment gegen den sozial funk­tion­s­los gewor­de­nen jüdis­chen Reich­tum mit der Atom­isierung des deutschen Staatsvolks und der Auflö­sung der hier­ar­chis­chen Klas­sen­ge­sellschaft in eine anar­chis­che Mas­sen­ge­sellschaft. Aus den Deklassierten aller Klassen rekru­tierte sich in der Weltkriegspe­ri­ode ein dekaden­ter Mob, der fasziniert den ziel­losen Ter­ror zum neuen poli­tis­chen Stil verk­lärte, wie ihn die kom­menden total­itären Führer schließlich zur Manip­u­la­tion und Kon­trolle ein­er form­losen Bevölkerungs­masse ver­wen­den soll­ten.

Anders als herkömm­liche Dik­taturen und Despo­tien kon­trol­lieren Total­i­taris­men nicht nur die poli­tis­che Frei­heit des Staats­bürg­ers, son­dern noch das pri­vate Leben des Indi­vidu­ums. Aus dem Impe­ri­al­is­mus wiederum, der nach dem Mod­ell der englis­chen Kolo­nialver­wal­tung die Bürokratisierung der Staat­spoli­tik vor­angetriebe­hat­te, zieht der Total­i­taris­mus die para­doxe Kon­se­quenz ein­er Entstaatlichung der Poli­tik: Sofern dessen ter­ror­is­tis­che Wellen noch die autoritärste Ord­nung unter­spülen müssen, set­zt sich in ein­er zum Staat erstar­rten »Bewe­gung« notwendig eine Ten­denz zur Selb­stradikalisierung und Selb­stzer­störung durch.

Wie die total­itäre Bewe­gung den Staat, so benutzt die total­itäre Pro­pa­gan­da die Ide­olo­gie als bloßes Mit­tel, um durch die bürokratis­che Ver­wal­tung auf Dauer gestell­ten Ter­rors eine »per­ma­nente Rev­o­lu­tion« nicht nur der gesellschaftlichen Ver­hält­nisse, son­dern der men­schlichen Natur selb­st zu ent­fes­seln, deren let­ztes Ziel die Erschaf­fung eines »neuen Men­schen« darstellt. Wenn für die Ver­nich­tung des alten die unbe­d­ingte Gefol­gschaft dem Führer gegenüber wichtiger ist als aller Glaube an Staat und Ide­olo­gie, so gehorcht solch­er Ver­nich­tungsradikalis­mus doch nicht ein­fach dessen men­schlich­er Willkür, son­dern vielmehr der Notwendigkeit außer­men­schlich­er Geset­ze der Geschichte oder der Natur, welche die Besei­t­i­gung »abster­ben­der Klassen« oder »min­der­w­er­tiger Rassen« uner­bit­tlich fordern. Die Todeslager schließlich, in denen das Wesen totaler Herrschaft seinen rein­sten Aus­druck find­et, ver­set­zen den entrechteten und ent­blößten Men­schen in die »organ­isierte Ver­lassen­heit« ein­er »Gesellschaft des Ster­bens«, die ihm die Über­flüs­sigkeit sein­er Exis­tenz und die Nichtigkeit seines Wesens demon­stri­ert. So vol­len­det sich der lebensweltliche »Erfahrungsver­lust« der impe­ri­al­is­tis­chen Selb­stüber­schre­itung im tod­brin­gen­den »Weltver­lust« des total­itären Sys­tems.

Ele­mente und Ursprünge ist das erfolg- und ein­flußre­ich­ste Werk Han­nah Arendts: In ihrer Def­i­n­i­tion totaler Herrschaft als entstaatlichter Poli­tik traf sie sich mit Carl Schmitts Diag­nose vom Ende der Staatlichkeit sowie mit Franz Neu­manns Befund vom Ende der Geset­zeskraft; mit ihrer Analyse der selb­stzer­störerischen Dynamik des Nation­al­sozial­is­mus nahm sie die funk­tion­al­is­tis­che Schule Broszats und Momm­sens vor­weg; und ihre philosophis­che Inter­pre­ta­tion des Total­i­taris­mus fand im Denken Gior­gio Agam­bens eine eigen­willige Fortschrei­bung. So stellt Arendts vielschichtiges Werk weit mehr als nur einen Klas­sik­er der Total­i­taris­mus­the­o­rie dar.

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Zitat:

Der Ver­such der total­en Herrschaft, in den Lab­o­ra­to­rien der Konzen­tra­tionslager das Über­flüs­sig­w­er­den von Men­schen her­auszu­ex­per­i­men­tieren, entspricht aufs genaueste den Erfahrun­gen mod­ern­er Massen von ihrer eige­nen Über­flüs­sigkeit in ein­er über­bevölk­erten Welt und der Sinnlosigkeit dieser Welt selb­st. In ihrem Bestreben, unter Beweis zu stellen, daß alles möglich ist, daß alles zer­stör­bar ist, auch das Wesen des Men­schen, hat die totale Herrschaft, ohne es eigentlich zu wollen, ent­deckt, daß es ein radikal Bös­es wirk­lich gibt und daß es in dem beste­ht, was man wed­er ver­ste­hen noch erk­lären kann, was Men­schen wed­er bestrafen noch vergeben kön­nen und demge­genüber daher alle men­schlichen Reak­tio­nen gle­ich macht­los sind.

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Aus­gabe:

  • Taschen­buchaus­gabe, 13. Auflage, München: Piper 2008

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Lit­er­atur:

  • Gior­gio Agam­ben: Homo sac­er. Die sou­veräne Macht und das nack­te Leben, Frank­furt 2010
  • Julia Kris­te­va: Das weib­liche Genie. Han­nah Arendt, Ham­burg 2008
  • Elis­a­beth Young-Bruehl: Han­nah Arendt. Leben, Werk und Zeit, Frank­furt 2000