Epochenwechsel — Rolf-Peter Sieferle, 1993

Wer nach denen fragt, die die wichtig­sten Inter­pre­ta­tio­nen des Schlüs­sel­jahrs 1989 geliefert haben, wird Fran­cis Fukuya­ma genan­nt bekom­men und Samuel Hunt­ing­ton, der eine oder andere ver­weist vielle­icht auf Pana­jo­tis Kondylis, aber Rolf-Peter Siefer­le dürfte in der Rei­he fehlen. Das zu unrecht, denn Siefer­le hat mit seinem Buch Epochen­wech­sel eine der klüg­sten Analy­sen des Geschehens geschrieben und diese außer­dem mit Prog­nosen ver­bun­den, deren Wert uns heute, zwanzig Jahre später, immer deut­lich­er vor Augen ste­ht: von den Illu­sio­nen des Posthis­toire, vom monopo­laren Welt­staaten­sys­tem als einem – kurzfristi­gen – Durch­gangssta­di­um der Entwick­lung, der Wiederkehr der Macht- und den Illu­sio­nen der Men­schen­recht­spoli­tik, den Zwän­gen der Mass­en­in­te­gra­tion und den Ver­w­er­fun­gen, die Geburten­schwund und Ein­wan­derung mit sich gebracht haben.

Der Grund, warum Siefer­le in der erwäh­n­ten Namen­srei­he nicht vorkommt, hängt mit dem Charak­ter sein­er Vorher­sagen zusam­men, die alle zu den unan­genehmen Wahrheit­en gehörten. Für einen Augen­blick kon­nte man – nach dem Zusam­men­bruch des Kom­mu­nis­mus und angesichts der Verblüf­fung der Mei­n­ungseliten im West­en – glauben, daß die Zeit gekom­men sei, solche Wahrheit­en auszus­prechen.

In dieser Phase, zu Beginn der neun­ziger Jahre, hat Siefer­le sein Buch geschrieben. Als es auf den Markt kam, war das Kli­ma aber schon wieder umgeschla­gen, die alten Ein­flußnehmer waren auch die neuen, die erwartete Kehre blieb nur in anderen, eben neolib­eralen, Illu­sio­nen steck­en, und Siefer­les Behaup­tung, daß unter den gegebe­nen Umstän­den eine Rück­kehr zu Deutsch­lands spez­i­fis­chem Ord­nungsmod­ell – des »preußis­chen Sozial­is­mus« – nötig sei, um die notwendi­ge Sta­bil­isierungsleis­tung zu erbrin­gen, mußte den tonangeben­den Kreisen als Fleis­chw­er­dung ihrer schlimm­sten Befürch­tun­gen erscheinen.

Epochen­wech­sel wurde zwar in allen großen Blät­tern rezen­siert, aber Siefer­les Argu­men­ta­tion entwed­er als uner­he­blich oder als gefährlich eingestuft, und die maßgebende FAZ ließ das Buch von Susanne Gaschke in höh­nis­chem Ton abservieren. Siefer­le hat zwar noch ein zweites, im unmit­tel­baren Sinn poli­tis­ches Buch (Die kon­ser­v­a­tive Rev­o­lu­tion, 1995) fol­gen lassen, sich aber nach erneuten Angrif­f­en ganz aus dem ver­minten Feld zurück­ge­zo­gen und wieder auf seine Forschun­gen zur Kul­tur- und Wirtschafts­geschichte konzen­tri­ert.

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Zitat:

Wir leben in ein­er Zeit der Para­dox­ien, in welch­er die Gegen­sätze vielfach noch unver­mit­telt nebeneinan­der ste­hen und sich noch nicht ein­mal so weit formiert haben, daß es zu ern­sthaften Zusam­men­stößen gekom­men wäre.

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Aus­gabe

  • 2., erweit­erte Auflage, Berlin: Propy­läen 1999

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Lit­er­atur

  • Karl­heinz Weiß­mann: Die Illu­sio­nen der Ide­olo­gie. Zum sechzig­sten Geburt­stag des His­torik­ers Rolf-Peter Siefer­le, in: Junge Frei­heit 33/2009