Kondylis, Panajotis, Philosoph, 1943–1998

Der Philosoph Pana­jo­tis Kondylis wurde am 17. August 1943 in Olympia geboren. Er hin­ter­ließ ein umfan­gre­ich­es, gle­ich­wohl Frag­ment gebliebenes Werk: Ein über­raschen­der Tod am 11. Juli 1998 in Athen riß ihn, nach­dem er zahlre­iche gewichtige Mono­gra­phien, Über­set­zun­gen und Auf­sätze vorgelegt hat­te, mit­ten aus der Arbeit an einem auf drei Bände geplanten Opus Mag­num.

Der Außen­seit­er des akademis­chen Betriebs ist zwar längst in der Fach­welt anerkan­nt, wird im intellek­tuellen Estab­lish­ment aber noch immer als „Geheimtip“ gehan­delt. Ein Grund dafür liegt in der Kühn­heit und Sou­veränität des ana­lytis­chen Zugriffs von Kondylis: Seine Denkhal­tung kennze­ich­nete er selb­st als „deskrip­tiv­en Dezi­sion­is­mus“, der jeglich­es Wertesys­tem als Funk­tion men­schlichen Machtwil­lens mit tiefer Skep­sis betra­chtet, ander­er­seits wis­senschaftlich objek­tiv­er Erken­nt­nis mit großem Pathos verpflichtet ist. Seine Werke enthal­ten sich fol­glich ahis­torisch­er nor­ma­tiv­er Urteile, um die Tugend des kalten, illu­sion­slosen Blick­es zu schulen.

Der Sohn eines Beruf­sof­fiziers und ein­er Lehrerin war Sproß ein­er griechis­chen Ober­schicht­fam­i­lie, zu der u.a. der 1936 gestor­bene Gen­er­al und zeitweilige Min­is­ter Geor­gios Kondylis zählte. In Athen, wo er auch die Schule besucht hat­te, studierte Pana­jo­tis Kondylis Philoso­phie und Klas­sis­che Philolo­gie, absolvierte überdies noch vor Abschluß des Studi­ums seinen Mil­itär­di­enst. Nach dem „Putsch der Obris­ten“ im Jahr 1967 geri­et er wegen sein­er Befas­sung mit Marx und Engels in Ver­dacht, wurde aber nicht behel­ligt und kon­nte 1971 nach Deutsch­land gehen, um in Frank­furt am Main, vor allem aber in Hei­del­berg Philoso­phie, Geschichte und Poli­tik­wis­senschaften zu studieren. Gefördert wurde er dort von den kriegs­ge­di­en­ten His­torik­ern Rein­hart Kosel­leck und Wern­er Conze, pro­movierte jedoch 1977 bei Dieter Hen­rich als Philosoph. Kondylis blieb als Autor, Leser und Mann des Gesprächs zeit seines Lebens Pri­vat­gelehrter, der in Athen wie in Hei­del­berg zu Hause war. Sein Hauptwerk schrieb der poly­glotte Grieche auf Deutsch, da er dieser Sprache eine dem Alt­griechis­chen ähn­liche begrif­fliche, gram­ma­tis­che und damit philosophis­che Potenz zumaß.

Kondylis’ Denken geht aus von ein­er sozial­his­torisch gesät­tigten Ideengeschichte, die zu sys­tem­a­tis­chen philosophis­chen Ein­sicht­en des­til­liert und damit the­o­retisch fundiert wird. Seine Frag­ment gebliebe­nen „Gründzüge der Sozialon­tolo­gie“ (Das Poli­tis­che und der Men­sch, 1999) ver­ste­hen den Men­schen als ein soziales Wesen von Grund auf. Seins­geschichte hat Kondylis zufolge nicht beim Men­schen als Einzel­nem anzuset­zen, so seine Kri­tik an Hei­deg­ger, son­dern beim ago­nalen Sozial­we­sen, das stets zwis­chen Kon­flikt, Konkur­renz und Koop­er­a­tion aus­ges­pan­nt ist. In Macht und Entschei­dung (1984) legt er dar, daß Iden­tität auf vor­be­wußten Grun­dentschei­dun­gen fußt; indem sich der Mach­tanspruch der “eige­nen Iden­tität inner­halb des mit ihr verwach­se­nen Welt­bildes” ent­fal­tet, sind geistige Oper­a­tio­nen nicht weniger als hand­feste Hand­lun­gen immer auch Funk­tio­nen des men­schlichen Selb­ster­hal­tungstriebs und daher stets polemisch angelegt. Das Rin­gen um die Köpfe ist ele­mentar­er Bestandteil des Kampfes um die eigene Stel­lung in der Welt. Beispiel­haft ent­fal­tet wird dies schon in Kondylis’ Dis­ser­ta­tion über Die Entste­hung der Dialek­tik (1979) bei Hölder­lin, Schelling und Hegel und der damit zusam­men­hän­gen­den Studie über Die Aufk­lärung im Rah­men des neuzeitlichen Ratio­nal­is­mus (1981), wo er zeigt, “wie sich ein sys­tem­a­tis­ches Denken als Ratio­nal­isierung ein­er Grund­hal­tung und ‑entschei­dung allmäh­lich her­auskristallisiert, und zwar im Bestreben, Gegen­po­si­tio­nen argu­men­ta­tiv zu besiegen”. Die Aus­for­mung jen­er Dialek­tik, wie sie nach Hegel im Marx­is­mus Ide­olo­gie ein­er welt­geschichtlich wirk­samen Macht wurde, erweist sich als Teil eines kon­flik­tre­ichen, schon im Spät­mit­te­lal­ter ein­set­zen­den Prozess­es der Ablö­sung von Welt­bildern, in dem die for­mal-begrif­flichen Struk­turen der jew­eils älteren Meta­physik stillschweigend über­nom­men und polemisch umgedeutet wer­den. Kondylis’ Inter­esse gilt daher ein­er­seits solchen Denk­fig­uren, ander­er­seits auch den konkreten Men­schen und Schicht­en, die damit operieren. In diesem Sinne beschrieb und analysierte er die Formierung und Entwick­lung der europäis­chen „Neuzeit“ in sein­er Studie über den Kon­ser­v­a­tivis­mus (1986) und den Nieder­gang der bürg­er­lichen Denk- und Lebens­form (1991), um schließlich kon­se­quent mit der im 20. Jahrhun­dert etablierten nach­bürg­er­lichen Massendemokratie auch die aktuellen For­men der Glob­al­isierung in den Blick zu nehmen.

Bere­its Kondylis’ Deu­tung von Clauswitzens The­o­rie des Kriegs (1988), deren Aneig­nung und Fort­führung ins­beson­dere in der Marxschen Tra­di­tion er unter­suchte, belegt, daß er seine geis­tes­geschichtliche Arbeit nicht nur zur Fundierung ein­er Philoso­phie des Men­schen als Sozial­we­sen betrieb: Sie läßt ihn als gen­uin poli­tis­chen Denker erken­nen, der sich vor allem Thuky­dides, Machi­avel­li, Thomas Hobbes, Carl Schmitt und Ray­mond Aaron verpflichtet weiß. Als beson­dere ana­lytis­che Leis­tung von Lenins Clause­witz-Ver­ständ­nis betont er etwa, daß diesem “die Poli­tik nicht als das mäßi­gende Ele­ment erscheint, das den Krieg bändi­gen soll, son­dern als ein Zus­tand per­ma­nen­ten Kampfes, woraus von Zeit zu Zeit Kriege entste­hen müssen. Die Vorstel­lung vom Kampf ste­ht im Mit­telpunkt von Lenins poli­tis­chem Denken”. Mit Clause­witz mißt Kondylis dem “Takt des Urteils” größte Bedeu­tung für jede angemessene “zukun­ft­sori­en­tierte Lageschrei­bung” zu: Dieser ist nicht als Meta­pher für Intu­ition, son­dern als eine aus Erfahrung und Wis­sen gespeiste intellek­tuelle Urteils­fähigkeit zu ver­ste­hen. Dem entspricht Kondylis’ gesamtes Werk: Seine sys­tem­a­tis­che und große Mate­rial­massen bewälti­gende Durch­dringung der Geschichte stellt das Rüstzeug bere­it, die gegen­wär­tige Lage und das Poten­tial kün­ftiger Lageen­twick­lun­gen zu beurteilen. Frucht dieses poli­tis­chen Denkens sind Kondylis’ zu einem Band zusam­menge­faßte Auf­sätze über Das Poli­tis­che im 20. Jahrhun­dert (2001), beson­ders aber seine Studie über die „Plan­e­tarische Poli­tik nach dem Kalten Krieg“. Hier wird eine Zukun­ft “als Form und Möglichkeit, nicht als Inhalt und Ereig­nis erkennbar”, in der glob­al­isierte Verteilungskämpfe “das erschüt­ternd­ste und tragis­chste Zeital­ter in der Geschichte der Men­schheit” jen­seits aller Utopi­en erwarten lassen.

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Zitat:

Eine zukun­ft­sori­en­tierte Lagebeschrei­bung, die an die Stelle des undankbaren Ver­such­es ein­er Voraus­sage von Ereignis­sen treten will, muß jene Aspek­te der rel­e­van­ten geschichtlichen Fak­toren her­auskehren, denen sie ereignis­bildende Kraft zutraut. Sie muß also die Beson­der­heit der Lage auf­spüren und, wenn geschichtliche Kon­ti­nu­itäten vor­liegen, die Wand­lun­gen der dabei vork­om­menden Kon­stan­ten deut­lich machen.

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Schriften:

  • Die Entste­hung der Dialek­tik. Eine Analyse der geisti­gen Entwick­lung von Hölder­lin, Schelling und Hegel bis 1802, Stuttgart 1979
  • Die Aufk­lärung im Rah­men des neuzeitlichen Ratio­nal­is­mus, Stuttgart 1981
  • Macht und Entschei­dung. Die Her­aus­bil­dung der Welt­bilder und die Wert­frage, Stuttgart 1984
  • Kon­ser­v­a­tivis­mus. Geschichtlich­er Gehalt und Unter­gang, Stuttgart 1986
  • Marx und die griechis­che Antike. Zwei Stu­di­en, Hei­del­berg 1987
  • The­o­rie des Krieges. Clause­witz – Marx – Engels – Lenin, Stuttgart 1988
  • Die neuzeitliche Meta­physikkri­tik, Stuttgart 1990
  • Der Nieder­gang der bürg­er­lichen Denk- und Lebens­form. Die lib­erale Mod­erne und die massendemokratis­che Post­mod­erne, Wein­heim 1991
  • Plan­e­tarische Poli­tik nach dem Kalten Krieg, Berlin 1992
  • Mon­tesquieu und der Geist der Geset­ze, Berlin 1996
  • Das Poli­tis­che und der Men­sch. Grundzüge der Sozialon­tolo­gie, Bd 1: Soziale Beziehung, Ver­ste­hen, Ratio­nal­ität, aus dem Nach­laß hrsg. von Falk Horst, Berlin 1999
  • Das Poli­tis­che im 20. Jahrhun­dert. Von den Utopi­en zur Glob­al­isierung, Hei­del­berg 2001
  • Macht­fra­gen. Aus­gewählte Beiträge zu Poli­tik und Gesellschaft, Darm­stadt 2006; Mac­chi­avel­li, Berlin 2007

Lit­er­atur:

  • Jeroen Buve: Macht und Sein. Meta­physik als Kri­tik oder die Gren­zen des Kondylis­chen Skep­sis, Cux­haven 1991
  • Falk Horst (Hrsg.): Pana­jo­tis Kondylis. Aufk­lär­er ohne Mis­sion. Berlin 2007
  • Adolph Przy­byszews­ki: Autoren­por­trait Pana­jo­tis Kondylis, in Sezes­sion (2006), Heft 12