Koselleck, Reinhart, Historiker, 1923–2006

Rein­hart Kosel­leck, geboren am 23. April 1923 in Gör­litz, meldete sich 1941 frei­willig zur Wehrma­cht. Im Okto­ber 1945 kehrte er aus der Kriegs­ge­fan­gen­schaft in Kasach­stan zurück. Er studierte Geschichte, Philoso­phie, Staat­srecht und Sozi­olo­gie in Hei­del­berg und Bris­tol. Prä­gende Lehrer waren durch indi­rek­te Begeg­nung Hei­deg­ger und Carl Schmitt, sowie im akademis­chen Sinn Karl Löwith, Hans-Georg Gadamer, Wern­er Conze, Vik­tor von Weizsäck­er und Ernst Forsthoff.

Die Dis­ser­ta­tion Kri­tik und Krise. Eine Studie zur Patho­genese der bürg­er­lichen Welt (1954) ver­dankt wesentliche ihrer Impulse dem Gespräch mit Schmitt. Kosel­l­leck zeigt in einem Bogen­schlag von den religiösen Bürg­erkriegen bis zur Franzö­sis­chen Rev­o­lu­tion, daß das Zeital­ter der Kri­tik zugle­ich von ein­er tiefen Krise geprägt wird. Der Utopis­mus jen­er Jahre wird in sein­er Kom­plex­ität sicht­bar, in einem helleren Licht als jen­em, das der Epoche des Licht­es selb­st zu Gebote stand, wobei ins­beson­dere die Genese des Utopis­mus selb­st als Urszene der poli­tis­chen Krise der Gegen­wart sicht­bar wird. Mit diesem ungewöhn­lich glänzen­den Debüt war es Kosel­leck gelun­gen, sich jen­seits aller spez­i­fis­chen Schulen der his­torischen Wis­senschaft zu posi­tion­ieren und Aufk­lärung nicht eo ipso als nor­ma­tiv zu ver­ste­hen: nicht freilich im glob­alen Aufweis ein­er „Dialek­tik der Aufk­lärung“, son­dern in der mikrol­o­gis­chen Aus­lo­tung des Denkens von Locke, Diderot, Rousseau und der Freimau­r­er-Ide­olo­gie.

Sta­tio­nen als Lec­tur­er in Bris­tol, Eng­land (1954–1956) und als Assis­tent am His­torischen Sem­i­nar schlossen sich an, von 1960–1965 war er Mitar­beit­er im „Arbeit­skreis für Mod­erne Sozialgeschichte“ in Hei­del­berg, den er in den achtziger Jahren leit­en sollte, und, seit 1963, Mit­glied der hoch renom­mierten Forschungs­gruppe „Poet­ik und Hermeneu­tik“. Seine Habil­i­ta­tion­ss­chrift ist die große Mono­gra­phie über Preußen zwis­chen Reform und Rev­o­lu­tion (1967). 1966 wurde Kosel­leck Ordi­nar­ius in Bochum, 1968 in Hei­del­berg und 1973 nahm er einen Ruf an die neuge­grün­dete Biele­felder Uni­ver­sität an, an deren Auf­bau er bere­its zuvor entsch­ieden Anteil genom­men hat­te und der er bis zu sein­er Emer­i­tierung treu bleib.

Kosel­lecks Ruf grün­det nicht zulet­zt auf seinen begriff­s­geschichtlichen Stu­di­en. In den 70er Jahren gab er gemein­sam mit Wern­er Conze und Otto Brun­ner das Lexikon Geschichtliche Grund­be­griffe her­aus (8 Bände), – ein Par­al­lelun­ternehmen zu Joachim Rit­ters His­torischem Wörter­buch der Philoso­phie. In Begrif­f­en man­i­festiert sich Kosel­leck zufolge der Wan­del der Wirk­lichkeit­ser­fahrung, wobei sich in den Jahren zwis­chen 1750 und 1850 nach Kosel­lecks Beobach­tung beson­ders tief­greifende Verän­derun­gen ergeben. Er spricht deshalb von jen­er Epoche als der Sat­tel- bzw. Schwellen­zeit. Die Begriff­sprä­gun­gen, die aus ihr her­rühren, seien bis heute im wesentlichen ver­ständlich.

Auch dem Zeitsinn in der Geschichte, der Unter­schei­dung zwis­chen Epochen der Beschle­u­ni­gung und der Ver­langsamung, hat Kosel­leck ein­dringliche Stu­di­en gewid­met. In den späteren Jahren galt sein Augen­merk der Gedächt­niskul­tur, ins­beson­dere dem Nation­aldenkmal. Die Aus­lo­tung von Begrif­f­en bis in das Extrem der äußer­sten Unter­schei­dung bleibt ein Erbe Carl Schmitts, das sich bei Kosel­leck aber sel­ten direkt poli­tisch, son­dern zumeist sub­ku­tan äußerte.

Rein­hart Kosel­leck ver­starb am 3. Feb­ru­ar 2006 in Bad Oeyn­hausen.

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Zitat:

Denn das indi­rek­te Ver­hält­nis zur Poli­tik: die Utopie, die seit der geheimen Front­bil­dung der Gesellschaft gegen den absoluten Sou­verän dialek­tisch zum Vorschein kam, ver­wan­delte sich in den Hän­den des neuzeitlichen Men­schen in  einen poli­tisch ungedeck­ten Wech­sel auf die Zukun­ft. Der Wech­sel wurde einge­fordert erst­mals in der Franzö­sis­chen Rev­o­lu­tion.

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Schriften:

  • Kri­tik und Krise. Eine Studie zur Patho­genese der bürg­er­lichen Welt. Freiburg i.Br. 1959
  • Preußen zwis­chen Reform und Rev­o­lu­tion. All­ge­meines Lan­drecht, Ver­wal­tung und soziale Bewe­gung von 1791–1858, Stuttgart 1967
  • Ver­gan­gene Zukun­ft. Zur Seman­tik geschichtlich­er Zeit­en, Frank­furt a.M. 1979
  • Europa im Zeital­ter der europäis­chen Rev­o­lu­tio­nen, Frank­furt a.M. 1982
  • Der poli­tis­che Totenkult. Kriegerdenkmäler in der Mod­erne, München 1994
  • Goethes unzeit­gemäße Geschichte, Hei­del­berg 1997
  • Zur poli­tis­chen Ikonolo­gie des gewalt­samen Todes. Ein deutsch-franzö­sis­ch­er Ver­gle­ich, Basel 1998
  • Zeitschicht­en. Stu­di­en zur His­torik, Frank­furt a.M. 2003
  • Begriff­s­geschicht­en, Frank­furt a.M. 2006
  • Vom Sinn und Unsinn der Geschichte. Auf­sätze und Vorträge aus vier Jahrzehn­ten, hrsg. von Carsten Dutt, Frank­furt a.M. 2010

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Lit­er­atur:

  • Ute Daniel: Rein­hart Kosel­leck, in: Lutz Rapa­hel (Hrsg.): Klas­sik­er der Geschichtswis­senschaft. Bd 2, München 2006
  • Willibald Stein­metz: Nachruf auf Rein­hart Kosel­leck, in: Geschichte und Gesellschaft 32 (2006)
  • Ste­fan Wein­furter (Hrsg.): Rein­hart Kosel­leck. Reden zum 50. Jahrestag sein­er Pro­mo­tion in Hei­del­berg, Hei­del­berg 2006