Konservativismus. Geschichtlicher Gehalt und Untergang — Panajotis Kondylis, 1986

»Der Kon­ser­v­a­tivis­mus als konkrete geschichtliche Erschei­n­ung, die von ein­er fest umris­se­nen Ide­olo­gie begleit­et wurde, ist längst tot und begraben«, lautet das Faz­it von Pana­jo­tis Kondylis’€™ Unter­suchung dieses sozialpoli­tis­chen und ide­ol­o­gis­chen Phänomens der Neuzeit. Für ihn fällt die Geschichte des Kon­ser­v­a­tivis­mus »weit­ge­hend mit der Geschichte des Adels zusam­men«, woraus fol­gt, »daß das Ende des Adels als tra­di­tionellherrschen­der Schicht auch das Ende des sozial rel­e­van­ten und begrif­flich präg­nan­ten Kon­ser­v­a­tivis­mus nach sich ziehen mußte«. Vor diesem Hin­ter­grund unter­schei­det er mit Blick auf West- und Mit­teleu­ropa zwei große his­torische Phasen eines konkreten, an den Adel als Träger­schicht gebun­de­nen Kon­ser­v­a­tivis­mus: eine Phase des Kampfes gegen den Abso­lutismus und eine des Kampfes gegen die lib­erale und die demokratis­che Rev­o­lu­tion.

Kondylis’€™ in diversen Fach­wis­senschaften pos­i­tiv rezip­ierte Studie legt zunächst den sozialgeschichtlichen Gehalt und die Denk­fig­ur eines »antiab­so­lutis­tis­chen Kon­ser­v­a­tivis­mus« als Pro­to­typen frei, der von einem nach­fol­gen­den »gegen­rev­o­lu­tionären Kon­ser­v­a­tivis­mus« nach 1789 zu unter­schei­den ist, doch diesem und späteren nur schein­bar kon­ser­v­a­tiv­en Adap­tio­nen grundle­gende Argu­men­ta­tion­s­muster bere­it­stellte. Im Kampf um den Erhalt von Priv­i­legien formierte sich jen­er frühe – noch nicht auf den Begriff gebrachte – Kon­ser­v­a­tivis­mus polemisch aus der spät­mit­te­lal­ter­lichen Recht­sauf­fas­sung ein­er inte­gralen, religiös fundierten, ständisch und organ­isch konzip­ierten Gesellschaft her­aus.

Er richtete sich gegen die früh­neuzeitliche Sou­veränität­skonzep­tion mit ihren ratio­nal­is­tis­chen Ten­den­zen, die in die abso­lutis­tis­che Zen­tral­isierung und Geset­zge­bungs­macht mit dem Begriff ein­er are­ligiösen Staat­srai­son mün­de­ten. Ker­nauf­fas­sung jen­er soci­etas civilis und ihrer adeli­gen Vertei­di­ger war dabei die »Unmach­barkeit des Rechts«, also ein Ver­ständ­nis vom Recht als gegeben­er und nicht etwa vom Men­schen zu set­zen­der Größe. Angesichts der »lib­eralen und demokratis­chen Rev­o­lu­tion« ver­schoben sich 1789 die Frontstel­lun­gen insofern, als der kon­ser­v­a­tive Adel die vorher befe­hde­ten Insti­tu­tio­nen des aus­ge­bilde­ten abso­lutis­tis­chen Staats nun als par­tielle Bünd­nis­part­ner gegen die vom Bürg­er­tum getra­ge­nen Egal­isierung­s­ten­den­zen nutzen kon­nte und mußte.

Die defin­i­tive Auflö­sung eines begriff­s­geschichtlich rel­e­van­ten Kon­ser­v­a­tivis­mus set­zte in Deutsch­land mit der Adel­skrise um 1800 ein, und sie ist Ende des 19. Jahrhun­derts weit­ge­hend abgeschlossen: Gegen das his­torisch nun antre­tende Pro­le­tari­at und dessen ide­ol­o­gis­chen Über­bau des Sozial­is­mus über­nahm der Adel nun wiederum Posi­tio­nen des lib­eralen Bürg­er­tums, der Kon­ser­v­a­tivis­mus ging allmäh­lich im bürg­er­lichen Lib­er­al­is­mus auf.

Von nun an kann mit Kondylis »vom Kon­ser­v­a­tivis­mus nur metapho­risch oder in polemis­ch­er bzw. apolo­getis­ch­er Absicht die Rede sein«: Einzelne argu­men­ta­tive Stränge der ursprünglich adelig-kon­ser­v­a­tiv­en Polemik gegen den früh­neuzeitlichen Sou­veränitäts­be­griff und die bürg­er­lich-lib­erale Rev­o­lu­tion – etwa die sich aus dem 18. Jahrhun­dert her­aus entwick­el­nde antikap­i­tal­is­tis­che Kul­turkri­tik – führten nach der »Auflö­sung des Kerns kon­ser­v­a­tiv­er Weltan­schau­ung ein Eigen­leben« als »ver­streutes Erbe« und gin­gen in die Rüstkam­mern später­er Intellek­tuel­len­be­we­gun­gen ein.

Als Gegen­bild zur kap­i­tal­is­tis­chen Mas­sen­ge­sellschaft fungiert nun nicht mehr die soci­etas civilis, son­dern »Ide­ale, die haupt­säch­lich aus der Vorstel­lungswelt der nachro­man­tis­chen ästhetisieren­den Intel­li­genz des 19. Jhs. stam­men«. Motive der Adeligkeit wur­den nun­mehr selb­st metapho­risch in Eli­tendiskurse trans­formiert, die gegen die Masse auf die »große Per­sön­lichkeit« aus dem Kreis von »Kün­stlern, Indus­triellen und Cäsaren« fix­iert waren. Die soge­nan­nte Kon­ser­v­a­tive Rev­o­lu­tion der Zwis­chenkriegszeit erweist sich für Kondylis fol­glich als bürg­er­liche Radikalisierung, die in erster Lin­ie dem Fak­tum der Kriegsnieder­lage gegen die »west­lichen« Mächte und den Paris­er Vorortverträ­gen geschuldet war, nicht aber in spez­i­fisch deutschen Tra­di­tio­nen wurzelte. Diese von Kondylis ter­mi­nol­o­gisch der »Recht­en« des 20. Jahrhun­derts zuge­ord­nete Intellek­tuel­len­be­we­gung ver­band lib­erale Grund­sätze, wie die Tren­nung von Staat und Gesellschaft oder die Hochschätzung des Pri­vateigen­tums, mit vol­un­taris­tis­chen und autoritären Ansätzen, die im Kampf gegen das kom­mu­nis­tis­che Lager zwar antilib­er­al­is­tisch agierten, ihre lib­eralen Kernbestände indes kaum antasteten.

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Zitat:

Von eini­gen his­torisch und poli­tisch kaum nen­nenswerten Fos­silien aus ver­gan­genen Zeit­en abge­se­hen, nen­nen sich heute »Kon­ser­v­a­tive« jene Lib­eralen, die das sich unter den Bedin­gun­gen der indus­triellen Mas­sen­ge­sellschaft in jew­eils ver­schieden­em Aus­maß und Tem­po vol­lziehende Abgleit­en (eines Flügels) des Lib­er­al­is­mus in Posi­tio­nen der sozialen Demokratie ablehnen.

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Lit­er­atur:

  • Paul Got­tfried: Pana­jo­tis Kondylis and the obso­lete­ness of con­ser­vatism, in: Mod­ern Age 39 (1997), Heft 4
  • Eber­hard Straub: Kon­ser­v­a­tivis­mus, in: Falk Horst (Hrsg.): Pana­jo­tis Kondylis. Auf klär­er ohne Mis­sion, Berlin 2007