Voegelin, Eric — Staatsrechtler, 1901–1985

Eric Voegelin, geboren am 3. Jan­u­ar 1901 in Köln, war als poli­tis­ch­er Denker von ver­schieden­sten Strö­mungen bee­in­flußt. Nicht nur studierte er rechts- und staatswis­senschaftliche The­o­rien in Wien, son­dern auch For­men der amerikanis­chen Philoso­phie gehörten zu den frühen Ein­flüssen (Über die Form des amerikanis­chen Geistes, 1928). Zwis­chen den stark divergieren­den staat­srechtlichen Entwür­fen von Hans Kelsen und Oth­mar Spann ging Voegelin seinen eige­nen staat­s­the­o­retis­chen Weg, der in den dreißiger Jahren in der auf den öster­re­ichis­chen Kon­text bezo­ge­nen Schrift Der autoritäre Staat (1935) gipfelte, bevor Voegelin dann seinem Denken eine andere Rich­tung gab und mit dem Konzept der „poli­tis­chen Reli­gio­nen“ den Ver­such unter­nahm, poli­tis­che Phänomene mit­tels religiös­er Kat­e­gorien zu ver­ste­hen. Neben der Auseinan­der­set­zung mit Max Weber spielte auch Carl Schmitt eine Rolle als Bezugspunkt für das staat­srechtliche Denken Voegelins in seinem Früh­w­erk. Eben­falls zum Früh­w­erk gehören zwei ide­olo­giekri­tis­che Werke zum Rassegedanken.

Voegelin war ein Denker, der sich nicht leicht in eine Schublade einord­nen läßt. Wenig aus­sagekräftig ist die noch vielfach in Lehrbüch­ern der Poli­tik­wis­senschaft anzutr­e­f­fende Behaup­tung, Voegelin gehöre zu den Vertretern ein­er nor­ma­tiv-ontol­o­gis­chen Poli­tik­wis­senschaft. Die Kom­plex­ität seines wand­lungs­fähi­gen Denkansatzes, der sich auf eine schi­er unüberse­hbare Fülle his­torisch-poli­tis­chen und philosophis­chen Mate­ri­als bezieht, ste­ht dabei in ein­er gewis­sen Span­nung zur Nei­gung Voegelins, über­greifende The­o­rien bzw. The­o­reme zu entwer­fen. Ins­beson­dere sein Gno­sis-Konzept – Voegelin betra­chtete ein großes Spek­trum mod­ern­er Ide­olo­gien als gnos­tisch – zeigt die ana­lytisch prob­lema­tis­che Ten­denz zum Sam­mel­be­griff. Dies wirk­te sich teil­weise neg­a­tiv auf die ideengeschichtliche Präzi­sion der The­o­rie-Exege­sen Voegelins aus. Sein früher­er Lehrer Hans Kelsen kri­tisierte daher Voegelins Analysemeth­ode in der stark vom Gno­sis-Konzept geprägten Neuen Wis­senschaft der Poli­tik (1959) scharf, z. B. in bezug auf Hobbes, dem Voegelin eine gnos­tis­che Grund­konzep­tion vorge­wor­fen hat­te. Den­noch läßt sich Voegelins Werk ins­ge­samt als Antwort auf die geistige Unord­nung sein­er Zeit ver­ste­hen, die nicht zulet­zt in der Revolte des mod­er­nen Men­schen gegen das klas­sisch-christliche Men­schen­bild grün­dete. Voegelin übte in ver­schiede­nen Einzel­stu­di­en im Rah­men sein­er Geschichte der poli­tis­chen Ideen teils harsche bis ver­nich­t­ende Kri­tik an neuzeitlichen Denkern von Thomas Morus, Luther und Calvin über Locke, Rousseau, Hegel, Comte, Bakunin und Marx bis zu Niet­zsche, die er mit For­men des sog. pneuma­p­athol­o­gis­chen Bewußt­seins in Verbindung brachte.

Eric Voegelins Stärke lag dage­gen darin, das Phänomen ein­er „zweit­en Wirk­lichkeit“ zu analysieren, also ein­er The­o­riepro­duk­tion, die ele­mentare Aspek­te der Wirk­lichkeit aus­blendet und abdrängt, was schließlich zu ein­er Störung des Wirk­lichkeitsver­hält­niss­es des Men­schen führe. Ein Schlüs­sel­be­griff für die Wirk­lichkeit­s­analyse war für Voegelin dabei die „Apperzep­tionsver­weigerung“; er entlehnte diesen Begriff dem Werk Heim­i­to von Doder­ers, wie er über­haupt lit­er­arische Werke als wertvolle Hil­f­s­mit­tel zur Gegen­warts­di­ag­nose betra­chtete.

Da es sich hier­bei in entschei­den­der Hin­sicht um Bewußt­sein­sphänomene han­delte, mußte Voegelin die Bewußt­sein­sphiloso­phie zum Kern seines poli­tis­chen Denkens machen. Als eine Art Apri­ori der Philoso­phie Voegelins kann die These ein­er vorgängi­gen Ori­en­tierung des Men­schen auf eine tran­szen­dente Wirk­lichkeit bzw. einen göt­tlichen Grund sehen. Darin liegt bere­its ein Hin­weis auf die the­ol­o­gisch-poli­tis­che Dimen­sion seines Denkens beschlossen, die beson­ders deut­lich aus dem Briefwech­sel mit Leo Strauss her­vorge­ht. Ob man Voegelin als poli­tis­chen The­olo­gen deuten kann, ist jedoch umstrit­ten; Michael Henkel sieht Voegelin ab 1936 als einen solchen, weil mit dem kleinen Auf­satz Volks­bil­dung, Wis­senschaft und Poli­tik von 1936 der Rück­griff auf Gott für Voegelin zum entschei­den­den Kri­teri­um richtiger Erken­nt­nis werde.

Für die deutsche Wirkungs­geschichte Voegelins war der Umstand maßge­blich, daß Voegelin von 1958 bis 1969 als Pro­fes­sor in München lehrte und dort viele Schüler her­an­zog, die sich in der einen oder anderen Form seinen ana­lytis­chen Ansätzen ver­bun­den fühlten und auch heute noch die Her­aus­gabe sein­er Werke in deutsch­er Sprache betreiben.

Eric Voegelin ver­starb am 19. Jan­u­ar 1985 in Palo Alto.

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Zitat:

Eine Demokratie ist kein Schlaraf­fen­land, in dem der friedliche Bürg­er seinen Geschäften nachge­hen und sich des Wirtschaftswun­ders erfreuen kann, son­dern ein Zus­tand der täglichen, wohlgeübten und zur Gewohn­heit gewor­de­nen Wach­samkeit und Diszi­plin in den Grund­fra­gen des poli­tis­chen Lebens.

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Schriften:

  • Rasse und Staat, Tübin­gen 1933
  • Die Rassenidee in der Geis­tes­geschichte von Ray bis Carus, Berlin 1933
  • Der autoritäre Staat. Ein Ver­such über das öster­re­ichis­che Staat­sprob­lem, Wien 1936
  • Die Neue Wis­senschaft der Poli­tik. Eine Ein­führung, München 1959
  • Die poli­tis­chen Reli­gio­nen, München 1993
  • Auto­bi­ographis­che Reflex­io­nen, München 1994
  • Die Größe Max Webers, München 1995
  • Der Gottes­mord. Zur Genese und Gestalt der mod­er­nen Gno­sis, München 1999
  • Hitler und die Deutschen, München 2006
  • Mys­teri­um, Mythos und Magie. Bewußt­sein­sphilosophis­che Med­i­ta­tio­nen, Wien 2006
  • Ord­nung und Geschichte, 10 Bde., München 2007
  • Die Krise der Mod­erne. Zur Patholo­gie des mod­er­nen Geistes, München 2008
  • Real­itäts­fin­ster­n­is, Berlin 2010
  • Glaube und Wis­sen. Der Briefwech­sel zwis­chen Eric Voegelin und Leo Strauss von 1934 bis 1964, München 2010
  • Luther und Calvin. Die große Ver­wirrung, München 2011

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Lit­er­atur:

  • Har­ald Berg­bauer: Eric Voegelins Kri­tik an der Mod­erne, Würzburg 2000
  • Regi­na Braach: Eric Voegelins poli­tis­che Anthro­polo­gie, Würzburg 2003
  • Michael Henkel: Eric Voegelin zur Ein­führung, Ham­burg 2010
  • Hans Kelsen: A New Sci­ence of Pol­i­tics. Hans Kelsen’s Reply to Eric Voegelin’s „New Sci­ence of Pol­i­tics“. A Con­tri­bu­tion to the Cri­tique of Ide­ol­o­gy, Frank­furt a.M. 2004
  • Eber­hard von Lochn­er: Philoso­phie im Reich der Schat­ten. Die Münch­n­er Jahre des Poli­tik­wis­senschaftlers Eric Voegelin, München 2010
  • Hans-Jörg Sig­wart: Das Poli­tis­che und die Wis­senschaft. Intellek­tuell-biographis­che Stu­di­en zum Früh­w­erk Eric Voegelins, Würzburg 2005