Eric Voegelin, geboren am 3. Januar 1901 in Köln, war als politischer Denker von verschiedensten Strömungen beeinflußt. Nicht nur studierte er rechts- und staatswissenschaftliche Theorien in Wien, sondern auch Formen der amerikanischen Philosophie gehörten zu den frühen Einflüssen (Über die Form des amerikanischen Geistes, 1928). Zwischen den stark divergierenden staatsrechtlichen Entwürfen von Hans Kelsen und Othmar Spann ging Voegelin seinen eigenen staatstheoretischen Weg, der in den dreißiger Jahren in der auf den österreichischen Kontext bezogenen Schrift Der autoritäre Staat (1935) gipfelte, bevor Voegelin dann seinem Denken eine andere Richtung gab und mit dem Konzept der „politischen Religionen“ den Versuch unternahm, politische Phänomene mittels religiöser Kategorien zu verstehen. Neben der Auseinandersetzung mit Max Weber spielte auch Carl Schmitt eine Rolle als Bezugspunkt für das staatsrechtliche Denken Voegelins in seinem Frühwerk. Ebenfalls zum Frühwerk gehören zwei ideologiekritische Werke zum Rassegedanken.
Voegelin war ein Denker, der sich nicht leicht in eine Schublade einordnen läßt. Wenig aussagekräftig ist die noch vielfach in Lehrbüchern der Politikwissenschaft anzutreffende Behauptung, Voegelin gehöre zu den Vertretern einer normativ-ontologischen Politikwissenschaft. Die Komplexität seines wandlungsfähigen Denkansatzes, der sich auf eine schier unübersehbare Fülle historisch-politischen und philosophischen Materials bezieht, steht dabei in einer gewissen Spannung zur Neigung Voegelins, übergreifende Theorien bzw. Theoreme zu entwerfen. Insbesondere sein Gnosis-Konzept – Voegelin betrachtete ein großes Spektrum moderner Ideologien als gnostisch – zeigt die analytisch problematische Tendenz zum Sammelbegriff. Dies wirkte sich teilweise negativ auf die ideengeschichtliche Präzision der Theorie-Exegesen Voegelins aus. Sein früherer Lehrer Hans Kelsen kritisierte daher Voegelins Analysemethode in der stark vom Gnosis-Konzept geprägten Neuen Wissenschaft der Politik (1959) scharf, z. B. in bezug auf Hobbes, dem Voegelin eine gnostische Grundkonzeption vorgeworfen hatte. Dennoch läßt sich Voegelins Werk insgesamt als Antwort auf die geistige Unordnung seiner Zeit verstehen, die nicht zuletzt in der Revolte des modernen Menschen gegen das klassisch-christliche Menschenbild gründete. Voegelin übte in verschiedenen Einzelstudien im Rahmen seiner Geschichte der politischen Ideen teils harsche bis vernichtende Kritik an neuzeitlichen Denkern von Thomas Morus, Luther und Calvin über Locke, Rousseau, Hegel, Comte, Bakunin und Marx bis zu Nietzsche, die er mit Formen des sog. pneumapathologischen Bewußtseins in Verbindung brachte.
Eric Voegelins Stärke lag dagegen darin, das Phänomen einer „zweiten Wirklichkeit“ zu analysieren, also einer Theorieproduktion, die elementare Aspekte der Wirklichkeit ausblendet und abdrängt, was schließlich zu einer Störung des Wirklichkeitsverhältnisses des Menschen führe. Ein Schlüsselbegriff für die Wirklichkeitsanalyse war für Voegelin dabei die „Apperzeptionsverweigerung“; er entlehnte diesen Begriff dem Werk Heimito von Doderers, wie er überhaupt literarische Werke als wertvolle Hilfsmittel zur Gegenwartsdiagnose betrachtete.
Da es sich hierbei in entscheidender Hinsicht um Bewußtseinsphänomene handelte, mußte Voegelin die Bewußtseinsphilosophie zum Kern seines politischen Denkens machen. Als eine Art Apriori der Philosophie Voegelins kann die These einer vorgängigen Orientierung des Menschen auf eine transzendente Wirklichkeit bzw. einen göttlichen Grund sehen. Darin liegt bereits ein Hinweis auf die theologisch-politische Dimension seines Denkens beschlossen, die besonders deutlich aus dem Briefwechsel mit Leo Strauss hervorgeht. Ob man Voegelin als politischen Theologen deuten kann, ist jedoch umstritten; Michael Henkel sieht Voegelin ab 1936 als einen solchen, weil mit dem kleinen Aufsatz Volksbildung, Wissenschaft und Politik von 1936 der Rückgriff auf Gott für Voegelin zum entscheidenden Kriterium richtiger Erkenntnis werde.
Für die deutsche Wirkungsgeschichte Voegelins war der Umstand maßgeblich, daß Voegelin von 1958 bis 1969 als Professor in München lehrte und dort viele Schüler heranzog, die sich in der einen oder anderen Form seinen analytischen Ansätzen verbunden fühlten und auch heute noch die Herausgabe seiner Werke in deutscher Sprache betreiben.
Eric Voegelin verstarb am 19. Januar 1985 in Palo Alto.
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Zitat:
Eine Demokratie ist kein Schlaraffenland, in dem der friedliche Bürger seinen Geschäften nachgehen und sich des Wirtschaftswunders erfreuen kann, sondern ein Zustand der täglichen, wohlgeübten und zur Gewohnheit gewordenen Wachsamkeit und Disziplin in den Grundfragen des politischen Lebens.
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Schriften:
- Rasse und Staat, Tübingen 1933
- Die Rassenidee in der Geistesgeschichte von Ray bis Carus, Berlin 1933
- Der autoritäre Staat. Ein Versuch über das österreichische Staatsproblem, Wien 1936
- Die Neue Wissenschaft der Politik. Eine Einführung, München 1959
- Die politischen Religionen, München 1993
- Autobiographische Reflexionen, München 1994
- Die Größe Max Webers, München 1995
- Der Gottesmord. Zur Genese und Gestalt der modernen Gnosis, München 1999
- Hitler und die Deutschen, München 2006
- Mysterium, Mythos und Magie. Bewußtseinsphilosophische Meditationen, Wien 2006
- Ordnung und Geschichte, 10 Bde., München 2007
- Die Krise der Moderne. Zur Pathologie des modernen Geistes, München 2008
- Realitätsfinsternis, Berlin 2010
- Glaube und Wissen. Der Briefwechsel zwischen Eric Voegelin und Leo Strauss von 1934 bis 1964, München 2010
- Luther und Calvin. Die große Verwirrung, München 2011
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Literatur:
- Harald Bergbauer: Eric Voegelins Kritik an der Moderne, Würzburg 2000
- Regina Braach: Eric Voegelins politische Anthropologie, Würzburg 2003
- Michael Henkel: Eric Voegelin zur Einführung, Hamburg 2010
- Hans Kelsen: A New Science of Politics. Hans Kelsen’s Reply to Eric Voegelin’s „New Science of Politics“. A Contribution to the Critique of Ideology, Frankfurt a.M. 2004
- Eberhard von Lochner: Philosophie im Reich der Schatten. Die Münchner Jahre des Politikwissenschaftlers Eric Voegelin, München 2010
- Hans-Jörg Sigwart: Das Politische und die Wissenschaft. Intellektuell-biographische Studien zum Frühwerk Eric Voegelins, Würzburg 2005