Strauss, Leo — Philosoph, 1899–1973

Der poli­tis­che Philosoph Leo Strauss, geboren am 20. Sep­tem­ber 1899 in Kirch­hain, gehört zu den bedeu­tend­sten Denkern des 20. Jahrhun­derts, die eine grund­sät­zliche Moder­nität­skri­tik in philosophis­ch­er und poli­tis­ch­er Hin­sicht übten. Nach zion­is­tisch geprägten Anfän­gen poli­tis­chen Inter­ess­es und inten­siv­er Niet­zsche-Lek­türe brachte Strauss deut­liche Sym­pa­thien für eine rechte Option zum Aus­druck, in der er noch Anfang der dreißiger Jahre seine „doxa”, also poli­tis­che Mei­n­ung, erblick­te. Im Zuge inten­siv­er Auseinan­der­set­zun­gen mit Spin­ozas Bibel­wis­senschaft und Reli­gion­skri­tik, mit Carl Schmitts Begriff des Poli­tis­chen, der poli­tis­chen Philoso­phie von Hobbes sowie auch Moses Mendelssohn und dem mit­te­lal­ter­lichen Denken gelangte Strauss zu sein­er eige­nen Form von poli­tis­ch­er Philoso­phie. Diese nahm ihren Aus­gangspunkt von dem Sokratis­chen Ver­ständ­nis des Philoso­phierens in ein­er poli­tisch geprägten Welt, die ihren pop­ulärsten Aus­druck in dem schein­bar bloß philoso­phiegeschichtlichen Werk Natur­recht und Geschichte (1956) fand. Das „Prob­lem des Sokrates“ (Niet­zsche) sollte Strauss bis zu seinen let­zten Werken beschäfti­gen, die sich den sokratis­chen Schriften Xenophons und Pla­tons Geset­zen wid­me­ten. In Werken wie The City and Man (1964) analysierte Strauss die dem poli­tis­chen Leben innewohnen­den Span­nun­gen; in sein­er Schrift Über Tyran­nis (1963), die zu einem Dia­log mit Alexan­dre Kojève und Eric Voegelin führte, warf Strauss die Frage nach dem Wesen der antiken wie der mod­er­nen Tyran­nis auf und klärte das Ver­hält­nis des Philosophen zur poli­tis­chen Ord­nung, in deren Rah­men er sein Leben führen mußte. Strauss entwick­elte sich zu einem fre­und­schaftlichen Kri­tik­er der frei­heitlichen Demokratie, der diese aus Inter­esse an der Erhal­tung der Frei­heit auf innere Schwächen hin­wies.

Obwohl Strauss die mod­erne Philoso­phie zum Aus­gangspunkt sein­er Unter­suchun­gen machte, führte ihn ger­ade die Ein­sicht in die prob­lema­tis­chen Aspek­te dieser Philoso­phie zu ein­er Wieder­auf­nahme des Stre­its zwis­chen Alten und Mod­er­nen. Denn Strauss wollte in der denkbar radikalsten Weise über­prüfen, ob die mod­erne Philoso­phie tat­säch­lich alter­na­tiv­los war und ob es eine Möglichkeit geben kön­nte, hin­ter das mod­erne Denken und sein poli­tis­ches Kor­re­lat, den Lib­er­al­is­mus, zurück­zuge­hen. Dazu war es nötig, die Argu­mente der klas­sis­chen Philosophen wie Pla­ton, Xenophon, Aris­tote­les und Cicero neu zu prüfen in bezug auf die alles entschei­dende Wahrheits­frage. Um dies über­haupt als Option plau­si­bel zu machen, mußte Strauss ein Vorurteil für die Auf­fas­sung erweck­en, daß z. B. Pla­ton und Aris­tote­les nicht grundle­gend und ein für alle­mal von den mod­er­nen Philosophen wider­legt wor­den waren. Strauss griff zu diesem Zweck auf eine geneal­o­gis­che Studie des his­torischen Denkens zurück, um „hin­ter“ das mod­erne Denken und damit über es hin­aus zu kom­men.

Grundle­gend für das gesamte Werk von Leo Strauss ist die Zen­tral­ität des the­ol­o­gisch-poli­tis­chen Dilem­mas, das in der Lit­er­atur unter­schiedliche Deu­tun­gen erfahren hat. In der let­zten Instanz geht es auf die Frage nach dem richti­gen Leben zurück, das für den Men­schen entwed­er im Gehor­sam gegen die Gebote Gottes oder in der Beru­fung auf die natür­liche Ver­nun­ft beste­hen kann. Strauss ver­trat die Auf­fas­sung, daß die Vital­ität der abendländis­chen Kul­tur in der poli­tisch-prak­tisch unau­flös­baren Span­nung zwis­chen den Ansprüchen der religiösen Offen­barung und der philosophis­chen Ver­nun­ft bestand, die er mit den Abbre­via­turen „Jerusalem“ und „Athen“ iden­ti­fizierte. Die Poli­tis­che The­olo­gie kann als Gegen­vi­sion des men­schlichen Lebens zu Strauss’ poli­tis­ch­er Philoso­phie ver­standen wer­den – und wurde auch von Strauss’ „Dialog­part­ner“ Carl Schmitt so ver­standen (so noch im Briefwech­sel mit Jacob Taubes in den 1970er Jahren). Den bedeu­tend­sten Beitrag von Strauss zum the­ol­o­gisch-poli­tis­chen Prob­lem stellt wohl sein bish­er noch nicht in deutsch­er Über­set­zung vor­liegen­des Buch Thoughts on Machi­avel­li (1958) dar, das die Auseinan­der­set­zung mit Machi­avel­li zu ein­er Diskus­sion des Prob­lems der Mod­erne in philosophis­ch­er und poli­tis­ch­er Hin­sicht ausweit­et und das let­zte Ziel in der Wiedergewin­nung der „per­ma­nent prob­lems“ sieht, also den zeitüber­dauern­den Fra­gen, mit denen sich der Men­sch auseinan­der­set­zen muß. Die von Strauss ver­focht­ene Bil­dungskonzep­tion zielte auf die Etablierung ein­er „Aris­tokratie“ inner­halb der Mas­sen­ge­sellschaft, die gegen die mod­erne Ten­denz zum allum­fassenden Rel­a­tivis­mus und Nihilis­mus am Wert von geisti­gen und moralis­chen Tugen­den fes­thal­ten sollte.

Strauss’ philosophis­ches Werk erschließt sich in sein­er Tiefendi­men­sion nur ein­er sorgfälti­gen Lek­türe, die den vielfälti­gen Fin­gerzeigen des Autors nachge­ht. Strauss prak­tizierte eine „Kun­st des Schreibens“, die aus seinen Werken mehr als bloße philoso­phiegeschichtliche Arse­nale macht. Strauss’ Essay Per­se­cu­tion and the Art of Writ­ing (1952) gehört zu den bis heute unaus­geschöpften Grund­la­gen­tex­ten jed­er Auseinan­der­set­zung mit dem Wesen der poli­tis­chen Philoso­phie. Strauss entwirft hier nicht nur eine Hermeneu­tik philosophis­ch­er Texte unter Bedin­gun­gen der Ver­fol­gung, son­dern zielt grund­sät­zlich auf das Ver­hält­nis ein­er Frei­heit, die nicht Zügel­losigkeit ist, zu ein­er Ord­nung, die nicht Tyran­nei ist.

Leo Strass ver­starb am 18. Okto­ber 1973 in Annapo­lis (Mary­land).

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Zitat:

Wir sind noch viel tiefer unten als die Höh­len­be­wohn­er Pla­tons.

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Schriften:

  • Per­se­cu­tion and the Art of Writ­ing, New York 1952 (dt. Übers. des Tite­lessays in: Kun­st des Schreibens, Berlin 2009)
  • Natur­recht und Geschichte, Stuttgart 1956
  • Thoughts on Machi­avel­li, Glen­coe 1958
  • What Is Polit­i­cal Phi­los­o­phy? and Oth­er Stud­ies, Glen­coe 1959
  • Über Tyran­nis, Neuwied 1963
  • The City and Man, Chica­go 1964
  • Hobbes’ poli­tis­che Wis­senschaft, Neuwied 1965
  • Socrates and Aristo­phanes, New York 1966
  • Lib­er­al­ism Ancient and Mod­ern, New York 1968
  • The Argu­ment and the Action of Plato’s Laws, Chica­go 1975
  • The Rebirth of Clas­si­cal Polit­i­cal Ratio­nal­ism, hrsg. Thomas L. Pan­gle, Chica­go 1989
  • Gesam­melte Schriften, bish­er 3 Bde, Stuttgart 1996ff
  • On Plato’s Sym­po­sium, Chica­go 2001
  • Glaube und Wis­sen. Der Briefwech­sel zwis­chen Eric Voegelin und Leo Strauss von 1934 bis 1964, Pader­born 2010

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Lit­er­atur:

  • Ken­neth L. Deutsch/ John A. Mur­ley (Hrsg.): Leo Strauss, the Straus­sians and the Amer­i­can Regime, Lan­ham 1999
  • Till Kinzel: Pla­tonis­che Kul­turkri­tik in Ameri­ka. Stu­di­en zu Allan Blooms „The Clos­ing of the Amer­i­can Mind“, Berlin 2002
  • Hein­rich Meier: Carl Schmitt, Leo Strauss und der Begriff des Poli­tis­chen. Zu einem Dia­log unter Abwe­senden, Stuttgart 1998
  • Hein­rich Meier: Leo Strauss and the The­o­logi­co-Polit­i­cal Prob­lem, Cam­bridge 2006
  • Thomas L. Pan­gle: Leo Strauss. An Intro­duc­tion to His Thought and Intel­lec­tu­al Lega­cy, Bal­ti­more 2006